Ewig währt der Brandungsschmöker

Noch Jahre später rieselt der Sand aus den Seiten. Man weiss längst nicht mehr, worum es ging in dem Buch. Ob es das mit dem vergifteten Maler war. Oder mit der alleinerziehenden Mutter im Torhaus des Herrensitzes. Ob man es überhaupt zuende las. Man weiss aber genau, es war am Strand. Das Paperbackpapier hat fettige Stellen vom Sonnenöl. Es ist porös geworden in salziger Luft und weil es aufgeklappt auf einem nassen Handtuch lag. Der Rücken ist aufgesprungen. Das Buch ist in einem Sommer um Jahre gealtert, aber auf Jahre hinaus kündet es noch von den paar Tagen da an der Brandung.

Manche Bücher sind überhaupt nur dafür geschaffen worden, und selten sind es die, die man zuhause sorgsam wählte für die Reise. Die bedeutenden Schwarten, die wir mitnehmen wie Geisseln wider das allzu süße Leben, kommen vielleicht auf der Terrasse zu ihrem Recht, oder nachts, zum Einschlafen. Der Strand aber verlangt nach Büchern, die einer in Eile am Bahnhof erwirbt oder unter der Treppe der Ferienpension findet, ohne sie je wieder dorthin zu tun. Sie dürfen schlicht sein wie Kiesel, banal wie leere Sonnenölflaschen. Und zuverlässig müssen sie sein wie das Meer, das sich an solchen Tagen nie ändert. Ein Milieu, eine Stimmung, eine Spannung, fertig.

Wer übers Jahr da hineinschaut, dem welken die Krimis und Thriller und Romänzchen unter den Augen. Sie brauchen den aufrechtgehenden, strengen Leser nicht, sondern den liegenden, rücklings im Faltstuhl oder bäuchlings auf dem Frotteetuch, der zwischendurch zur gleißenden Horizontlinie späht und nichts will. Nur ein Bierchen, falls noch eins in der Kühltasche ist, und einfache Antworten auf schwierige Fragen. Ist die Welt kompliziert und alles Einfache nur Projektion wie die glatte Horizontlinie dahinten, die aus komplexen Wogen entsteht? Oder doch umgekehrt? Puh. Lieber weiterlesen. Und wenn in der Sonne der Geist auch dafür schon zu rissig ist oder zu schräg hängt vom Bier, dann gehen wir halt baden.

Das Buch wartet gern, leicht kommt man wieder hinein, kein Unterschied zwischen des Meeres und der Zeilen Wellen. Die Figuren nähren sich von den unvergänglichen Düften, die schon immer am Strand waren, das Sonnenöl zuvörderst, die Salzluft, Pommes mit Majo von der Bude hinten, herbere Noten von angeschwemmten Algen, oder Dieselwölkchen vom kleinen, weißen Schiff, das übers Wasser tuckert. Man könnte glatt regredieren dabei, aber der zuverlässige Plot, die knappen Sätze des Strandbuchs gewähren Halt und Form, so dass, selbst wenn Teile der Seele schon auf Fischniveau schwimmen, immer noch ein Kulturwesen sich schwankend erhebt am späten Nachmittag. Und in der Lage ist, noch Wein und ein paar Zwiebeln zu kaufen, vielleicht sogar eine Zeitung.

Die bleibt zurück, wenn die Ferien enden. Der Brandungsschmöker aber wird, wie der Seestern und das Schiffstickett, mitgenommen. Noch Jahre später rieselt der Sand aus den Seiten.

Dieser Text erschien am 8. Juli 2000 in geringfügig anderer Form in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und 2008 in der Sammlung “Der Wolkenkoffer” (Zu Klampen Verlag) und ist urheberrechtlich geschützt.