Die Hymne aller Hymnen

Sie ist das Lied der Französischen Revolution, sie ist das Freiheitslied der ganzen Welt: Die Marseillaise. Ihren Dichter und Komponisten indes umgeben bis heute viele Rätsel und wunderliche Legenden

Mit einer Pistole in der Faust streunt der Komponist durch Paris. Die Stadt kocht. Nicht wegen der Sommerhitze. Tagelang wurde scharf geschossen, zweitausend Menschen sind umgekommen. Seit dem 29. Juli 1830 ist Paris in den Händen der Aufständischen, der König flieht. Man singt, man sammelt für die Verwundeten, auch Hector Berlioz schließt sich einem Spontanchor an. Bald umdrängt eine begeisterte Menge die Sänger, sie ziehen in den ersten Stock eines Kurzwarengeschäfts nahe dem Louvre und stimmen aus dem Fenster ein Lied an, das von Frankreichs Herrschern seit Napoleon geächtet worden ist. »Schon bei den ersten Takten erstarrt das lärmende Gewimmel zu unseren Füßen und verstummt«, erinnert sich Berlioz. An die fünftausend Leute lauschen ergriffen der Marseillaise. In der vierten Strophe schreit Berlioz: »Verdammt noch mal, singt doch mit!« Was dann folgt, gleicht einer Explosion.

Das Lied der Revolution hat noch dieselbe Sprengkraft wie 38 Jahre zuvor, als es entstand. Es wird sie auch noch während des Aufstands in Ungarn 1956 entfalten, und 1989 werden es die chinesischen Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens singen, während die Panzer auf sie zurollen. Die Marseillaise ist mehr als die Hymne einer Nation, sie ist die Hymne der Freiheit schlechthin. Es gibt Hunderte Arrangements, und nicht nur in Casablanca machte sie Filmgeschichte. Die Großen, die sie zitieren, zählen nach Dutzenden, von Schumann über Debussy bis zu Stockhausen und den Beatles. Dass diese Melodie oft da hervorbricht, wo eine Gesellschaft in dramatischem Umbruch ist, hat historische wie musikalische Gründe. Als populärste und folgenreichste Tonfolge der Welt hätte sie ihren Komponisten, wäre er schon in den Schutz von Urheberrechten gekommen, steinreich machen können.

Stattdessen ist er völlig mittellos. Während Berlioz erlebt, dass mehrere Tausend Pariser »präzise und kraftvoll wie ein geübter Chor« den verlangten Refrain donnern, »Zu den Waffen, Bürger!«, und mit Gesang besiegeln, was dann als Julirevolution Geschichte macht, lebt der Schöpfer der Hymne verbittert und verarmt in einem Ort südlich von Paris, in Choisy-le-Roi. Ein Mann von 70 Jahren, der jeden Nachmittag um vier seine Runde durchs Dorf macht, in einen langen Gehrock geknöpft, das Gesicht von der breiten Krempe des Zylinders beschattet. In seiner besten Zeit trug er das Dunkelblau eines Hauptmanns im Corps Royal du Génie – der Abteilung der Ingenieure. Aber diese beste Zeit liegt lange zurück, so lange wie jene Woche, in der ihn die Muse überfiel. In der Nacht zum 26. April 1792 hat Claude-Joseph Rouget de Lisle, 32 Jahre alt, die 28 Takte und sechs Strophen vollendet.

Die Nacht von Straßburg – ein One-Night-Stand mit dem Weltgeist?

Dieser Rouget ist eine der merkwürdigsten Gestalten der Musikgeschichte. Weder vorher noch nachher gelang ihm Vergleichbares, und vielleicht liegt auch in dem Mittelmaß, aus dem es wuchs, ein Geheimnis dieses Lieds. In Straßburg ist die Marseillaise entstanden. »Hier beginnt das Land der Freiheit«, steht auf der Trikolore, die im April 1792 über der Rheinbrücke weht. Die Revolution ist nicht mehr auf Frankreich begrenzt, seit Preußen und Österreich zugesagt haben, Ludwig XVI. zu unterstützen. Der ist noch immer König von Frankreich und sieht sich, trotz aller Zugeständnisse, die er schon machen musste, nach wie vor als Souverän. Am 20. April 1792 beschließt die Nationalversammlung, Österreich den Krieg zu erklären, in Straßburg sammeln sich die Truppen der Rheinarmee, Freiwillige treffen ein, der Bürgermeister hat Plakate kleben lassen: »Aux armes, citoyens!«

Bürgermeister Philippe-Frédéric de Dietrich zählt zu den demokratischen »Verfassungsfreunden« ebenso wie der Offizier Rouget de Lisle, dessen Bataillon den Namen »Enfants de la Patrie« trägt. Straßburg brodelt zwischen Angst und Aufbruch, und Dietrich lädt zu einem kleinen Fest, um den Abmarsch der Truppen gen Osten zu feiern. Während des Abends bekommt Rouget den Auftrag, ein zündendes Lied zu schreiben. Immerhin spielt er Geige und hat mit seinem Freund Ignaz Pleyel, zeitweise Kapellmeister an Straßburgs Münster, schon eine »Freiheitshymne« verfasst, wobei Pleyel die Verse Rougets vertonte.

Doch jetzt wird schärfere Kost verlangt, und Rouget, der nette, schüchterne Mann aus der Gegend bei Lyon, soll sie liefern. Pleyel kann ihm nicht helfen: Der Komponist ist im Dezember 1791 nach London abgereist, wo er in einer Konzertreihe mit eigenen Werken seinem Lehrer Joseph Haydn Konkurrenz macht. Was sich ereignet, als der Leutnant nach dem Abend bei Dietrich in sein Zimmer in der Grande Rue 126 zurückgekehrt ist, hat Stefan Zweig 1937 zum One-Night-Stand mit dem Weltgeist verklärt. »Immer fügsamer gehorcht die Melodie dem hämmernden, dem jubelnden Takt, der Herzschlag eines ganzen Volkes ist. Wie unter fremdem Diktat schreibt hastig und immer hastiger Rouget die Worte, die Noten hin – ein Sturm ist über ihn gekommen […]. Eine Exaltation, eine Begeisterung […] reißt den armen Dilettanten hunderttausendfach über sein eigenes Maß hinaus und schleudert ihn – eine Sekunde lang Licht und strahlende Flamme – bis zu den Sternen.«

In Wahrheit hatte Rouget mehr als eine Nacht. Schon fünf Tage zuvor bat ihn ein befreundeter General brieflich um ein Stück zum Ausmarsch der Freiwilligen, und Rouget sagte geschmeichelt zu. Am Tag nach der Soiree erscheint er mit dem Manuskript bei Dietrich. Dessen Frau schreibt: »Mein Mann, der eine gute Tenorstimme hat, hat das Stück gleich gesungen, das sehr anziehend ist und eine gewisse Eigenart zeigt …« Als Chant de Guerre pour L’Armée du Rhin wird es gedruckt, ohne Autorenangabe, aber mit einer Widmung an den Befehlshaber der Rheinarmee, den deutschen General in französischen Diensten Nikolaus Graf Luckner.

Den Franzosen hilft es nicht. Nachdem die ungeübten Freiwilligen mehrere Niederlagen erlitten haben, wächst die Angst vor der Gegenrevolution. Am 10. August 1792 stürmt eine Volksmenge in Paris die Tuilerien, den Sitz des Königs, was nur mit Unterstützung aus dem Süden des Landes gelingt, mit 600 Freiwilligen aus Marseille. Vier Wochen lang sind sie marschiert und haben, die Provinzen durchquerend, ein Kampflied gesungen, das über eine Zeitschrift ans Mittelmeer gelangt war. Als Chanson des Marseillois, als Lied der Marseiller, wird es jetzt in Paris zu der Melodie, unter der die mehr als 900 Jahre alte Königsherrschaft endet. Die Töne verschmelzen mit der Demokratie, mit dem Beginn der Republik, die im Herbst 1792 ausgerufen wird, da sind die Truppen der deutschen Fürsten endlich zurückgeschlagen. Bizarrerweise führt diese zweite Revolution wenig später zu Rougets Entlassung aus der Armee, denn er verweigert es, sich auf den neuen Staat verpflichten zu lassen. So republikanisch hat er sein Lied nun auch wieder nicht gemeint.

Später lenkt er ein, er wird noch oft einlenken, je nachdem, woher der Wind gerade weht, damit ist er nicht allein. Das Tempo der Ereignisse überfordert viele, und mancher, dem es vorher nicht so schlecht ging, sehnt sich zurück nach der Ruhe vor dem Sturm.

Diese Ruhe spürt man noch heute da, wo Claude-Joseph 1760 zur Welt kam und aufwuchs, in dem Provinzstädtchen Lons-le-Saunier, Departement Jura, nahe der Schweiz. Eingebettet in sanft schwingende Berge, 19000 Einwohner, in der Mitte, natürlich, die Place de la Liberté, daneben Arkaden aus dem 18. Jahrhundert. Zwischen einem Telefonladen und einer Versicherungsfiliale findet man den Eingang zur Nummer 24, durch den Hof dringt Akkordeongestocher aus einer kleinen Musikschule. Im ersten Stock knirschen die Dielen der Wohnung, in welcher der königliche Advokat Claude-Ignaz Rouget und seine Frau Jeanne Madelaine lebten. Claude-Joseph war ihr erstes Kind, es wuchs behütet auf.

Schon am Freitagnachmittag senkt sich Sonntagsstille über die Stadt, und man begreift, was Provinz bedeutet, jetzt wie damals, man sieht Hunderte solcher Städtchen unter der Sonne der Monarchie dösen, jedes für sich. Eine Melodie, in der sich alle französischen Provinzen erkennen und vereinen konnten, musste vielleicht von einem Menschen aus so einem Städtchen geschrieben werden. Die Marseillaise ist ja keine abstrakte Komposition, sie klingt wie ein Volkslied. Und Volkslieder könnte Rouget einige gehört und gesungen haben. Die drei Bände, in denen die Chansons populaires comtoises abgedruckt sind, Lieder aus ebendieser Gegend, umfassen immerhin 530 Stücke, schlicht und anrührend.

Freilich sind viele Parallelen, die sich zur Marseillaise entdecken lassen, keine regionale Spezialität: eine Quarte als Auftaktintervall, ein Ambitus von einer Oktave, die punktierten Rhythmen des Marschs. Und Rougets Linie geht in ihren 28 Takten auch harmonisch über die kleinen Bögen der Chansons deutlich hinaus. Was sie mit vielen Liedern dieser Gegend teilt, ist eine gewisse melancholische Note.

Melancholisch wie das Dörfchen Montaigu, das nahe von Lons auf einer Anhöhe liegt, hier gehörte den Eltern ein Haus. Mit kleinscheibigen Fenstern umschließt es einen Hof zur Straße, am Gittertor wächst Flieder. Hierhin zieht sich Rouget später zurück, verfolgt von der Polizei Napoleons, der die Marseillaise überhaupt nicht schätzt.

Aber Napoleon ist noch ein Kind von sieben Jahren, als Rouget, versehen mit dem karriereförderlichen Adelsschwänzchen »de Lisle«, seine verträumte Heimat verlässt und, 16 Jahre alt, die Militärschule in Paris bezieht. Die Karriere zum Hauptmann entwickelt sich bruchlos. Der junge Mann liebt die Musik, er schreibt Verse und Stücke, hier und da auch eine Melodie. Dass seine Gedichte und Lieder den Talentproben ähneln, wie bis heute Abertausende von Pappkartons und Websites füllen, muss uns nicht enttäuschen. Rouget ist der vielleicht einzige Fall eines Jedermann, dessen Hinterlassenschaften erforscht wurden wie die eines Genies.

Schon sein erster Biograf Julien Tiersot verschweigt 1892 nicht, dass es Rougets frühen Versuchen »an jeglicher Originalität mangelt«; einigen Romanzenmelodien gesteht er zu, sie erreichten »das mittlere Niveau des Genres«. Und er setzt sich auseinander mit einer Frage, die zuerst der belgische Komponist und Musikbiograf François-Joseph Fétis aufwarf: Hat Rouget wirklich die Marseillaise komponiert? 1863 erklärt Fétis, Schöpfer der Melodie sei ein gewisser Geiger Navoigille. Als seine Quelle dem juristischen Einschreiten eines Verwandten von Rouget nicht standhält, zaubert der Belgier einen obskuren Nordfranzosen aus dem Hut. Ein Domkapellmeister aus St. Omer soll in einem Oratorium jene Melodie notiert haben, die Rouget dann übernahm. Doch diese Theorie beruht auf einer Fälschung – und ist nicht der letzte Versuch geblieben, dem berühmten Kind einen anderen Vater zu verschaffen. Warum nicht gar Mozart? Ähnelt nicht das Marschthema seines Klavierkonzerts KV 503 der Marseillaise? Ja, in den ersten sieben Tönen, aber Rougets Thema ist besser. Kann vorkommen.

»Wenn er den Text geschrieben hat und Geige spielte, konnte er auch die Noten dazu schreiben«, meint Klaus Huber, einer der bedeutendsten Komponisten und Kompositionslehrer unserer Zeit. »Es gibt ja Potenziale, die in gewissen Zusammenhängen aufbrechen, und das Thema ist sehr volksnah.« Könnte also jeder von uns die Marseillaise geschrieben haben? Pierre Boulez, lebender Nationalheiliger der französischen Avantgarde, schlägt scherzhaft vor: »Fragen Sie doch Berlioz!« Der habe die Melodie schließlich arrangiert. Tatsächlich stand für Berlioz Rougets Autorschaft außer Zweifel.

Aber die Nachwelt kann die Normalität als Quelle des Außergewöhnlichen offensichtlich kaum ertragen. Selbst die These, Rougets Straßburger Freund Pleyel stecke dahinter, hält sich hartnäckig. Pleyels Biograf Adolf Ehrentraut, der besser als jeder andere weiß, wann sein Komponist sich in London aufhielt, lässt noch ein Türchen offen: »Irgendwelche Notizen Pleyels zu einer Melodie könnte Rouget ja besessen haben.«

Was man besitzt, sind Rougets eigene Notizen. Eine Kiste mit Manuskripten wird in seiner Heimatstadt wie ein Kronschatz gehütet. Die 320 Melodien darin sind die Grundlage der 1996 erschienenen tausendseitigen Dissertation von Christian Mas, in der noch die letzte Achtelnote herhalten muss für den Versuch, Rouget zu einem großen Komponisten zu stilisieren. Immerhin, die besten Stücke klingen wie Volkslieder, und eine frühe Hymne auf den Sonnenuntergang wagt sich von B-Dur bis nach Ges-Dur. Andererseits scheitert Rouget mitunter schon an der Rhythmisierung des Textes, die ja zu den Stärken der Marseillaise gehört, und Versuche, in der Harmonik über die Dominante hinauszukommen, grenzen an Verzweiflungstaten. Von 50 eigenen Liedern, die Rouget anno 1825 drucken ließ, sind 23 mit Reminiszenzen an die berühmte Hymne versehen.

Die Marseillaise muss ihren Schöpfer wie ein Nesselhemd gequält, aber auch wie eine Rüstung geschützt haben in dieser dramatischen Epoche der Geschichte. Angesichts seiner Eidverweigerung ist es erstaunlich, dass er nicht zu den Klängen seines eigenen Liedes enthauptet wurde wie an die 40000 Menschen, die in den Tagen der Terreur bis zum Sturz Robespierres im Sommer 1794 auf der Guillotine starben – Marschall Luckner darunter und Bürgermeister Dietrich. Nicht selten stimmten die Verurteilten auf dem Henkerskarren selbst die Hymne an.

Unterdessen kannten auch die Preußen das Lied, zu dessen Tönen sie geschlagen worden waren. »Die Wirkung dieser Hymne zu beschreiben«, erinnert sich ein Offizier, »wie sie von Tausenden von Stimmen gesungen und in so fürchterlicher Art begleitet wurde, ist menschenunmöglich.« Goethe nannte sie »ergreifend und furchtbar«.

Rouget wird verhaftet, des Verrats verdächtig, und versucht sich mit einer Hymne auf die Vernunft bei Robespierre beliebt zu machen. Nach dessen Ende freigelassen, liefert er eine Hymne über die Verschwörung Robespierres, dann hält er es mit den Großbürgern und scheint politisch eher in der Mitte des Liederkrieges zu stehen, der sich 1794 um die Marseillaise entwickelt: Die erstarkten Revolutionsfeinde singen Peuple français, in den Theatern entsteht Gerangel, weil jede Fraktion das Absingen ihres Liedes erzwingen will. Von 1796 an sind für eine Weile alle Pariser Bühnen verpflichtet, »jeweils die Hymne der Marseiller oder das eine oder andere republikanische Lied« hören zu lassen. Das wird von der »Armee des Innern« durchgesetzt, deren Befehlshaber Bonaparte heißt.

»Es lebe der König!« 1815 dient sich Rouget den Bourbonen an

Mit dem wird es Rouget noch zu tun bekommen, an ihm wird er katastrophal scheitern, aber nicht weil unter der Alleinherrschaft des Korsen mit der Demokratie auch die Marseillaise verschwindet. Der Hymnenlieferant hat die eigentümliche Gabe, sich immer dann selbst ins Aus zu manövrieren, wenn die Zeichen für ihn günstig stehen. Kaum hat er sich die Gunst des gefeierten Generals Hoche erworben, greift er in giftigen Briefen (»Ich bin Ihr Feind!«) einen der mächtigsten Politiker der Zeit an, jenen erzrepublikanischen General Lazare Carnot, dem er nicht verzeihen kann, dass er ihn 1792 aus der Armee verstieß. Und kaum hat er durch die Vermittlung seines jüngeren Bruders, der als General in Holland stationiert ist, dort einen Posten als Botschafter bekommen, erteilt er dem Ersten Konsul Napoleon mit solchem Furor Ratschläge (»Ich habe mit Ihnen auch über Frankreich zu reden«), dass damit seine diplomatische Karriere schon beendet ist. Verbittert schickt Rouget 1804 dem Herrscher eine Generalabrechnung, er wirft ihm den Verrat aller revolutionären Ideale vor: »Bonaparte, Sie richten Frankreich zugrunde!«

Der sozialdemokratische Politiker und Schriftsteller Hermann Wendel, der 1936 im französischen Exil ein Buch über die Marseillaise veröffentlichte, hat wohl recht, wenn er trotz dieses Freimuts meint, Rouget sei »kein Brutus, sondern nur ein verhinderter Barde des Gewalthabers« gewesen. Ein Mitläufer, der in Extremsituationen Grenzen überschritt – wovon vielleicht auch die Komposition der Marseillaise profitiert hat. Diesmal aber hatte er sich in den Ruin katapultiert; die Spuren kann man in Lons unter Glas besichtigen. Da liegt im kleinen Museum ein Brief von 1806. »Eine sehr mäßige Summe« erbittet der 46-Jährige von einem Freund. Er hätte viel mehr gebraucht, er hatte keine Chance in Paris. Sechs Jahre später zieht er sich nach Montaigu ins Elternhaus zurück, und als Napoleon abgedankt hat, dient sich Rouget mit einer Hymne König Ludwig XVIII. an, der aus dem Exil zurückkehrt: »Vive le roi! Noble cri de la vieille France – Es lebe der König! Edler Ruf des alten Frankreich«.

Aber auch die Bourbonen wollen nichts von ihm wissen. 1817 wird das Elternhaus versteigert, Rouget schlägt sich erneut in Paris durch, 1826 wird er wegen nicht bezahlter Schulden inhaftiert. Zwei Jahre später bringt ein Freund den alten Barden bei sich unter, in Choisy-le-Roi südlich von Paris, wo er in seinem aus der Mode gekommenen Rock umhergeht wie ein älterer Bruder des Balzacschen Vetter Pons. Es ist seltsam, dass Honoré de Balzac, der geniale Chronist der Epoche, für diesen Mann keinen Platz in seiner Comédie humaine gefunden hat. Doch der ganze Roman seines Lebens steckt in den Zeilen, die der 70-jährige Rouget an Berlioz schreibt, als nach der Julirevolution 1830 die Marseillaise wieder überall gesungen wird. »Ihr Kopf scheint ein unablässig tätiger Vulkan zu sein, in meinem war nie etwas anderes als ein Strohfeuer, das erlischt und noch ein wenig raucht. Aber aus beidem zusammen, der reichen Glut Ihres Vulkans und den Resten meines Strohfeuers, könnte noch etwas entstehen. Ich hätte Ihnen diesbezüglich einen oder vielleicht zwei Vorschläge zu machen…«

Hector Berlioz zitiert den Brief später in seinen Memoiren, aber er denkt nicht daran, sich mit dem Alten zu treffen. 1836 stirbt Rouget in dem Ort, der heute ein Teil des Häusermeeres unter den in Orly landenden und startenden Flugzeugen ist.

Wo immer sie herkommen und hinfliegen, überall kennt man diese Melodie, überall hat man sie gesungen, alle Zeiten hat sie überstanden, unzerstörbar selbst da, wo sie bis auf den Rhythmus skelettiert wurde. Heinrich Heine begegnete einst als kleiner Junge in Düsseldorf einem französischen Soldaten, der nur gebrochen Deutsch sprach. Das deutsche Wort für Liberté kannte er nicht. »So trommelte er den Marsch der Marseiller – und ich verstand ihn.«

Der Text erschien am 9. Juli 2009 in der ZEIT, deren Ressort “Geschichte” da noch “Zeitläufte” hieß, und ist urheberrechtlich geschützt.