Auf dunklen Höhen

Felix Mendelssohn Bartholdy wird 200, doch so richtig kennt ihn keiner. Seinen Biografen ist der Komponist noch immer weit voraus, aber die Gesamtausgabe seiner Briefe gibt uns überraschende Einblicke

Im Garten der Leipziger Straße 3 hat Alexander von Humboldt eine Kupferhütte bauen lassen. Ein »eisenfreies magnetisches Häuschen« glänzt in der Berliner Herbstsonne des Jahres 1828. Humboldt fühlt der Welt den Puls. Der 59-jährige Gelehrte, Freund und Gast des Bankiers Abraham Mendelssohn, zeichnet Veränderungen im Magnetfeld der Erde auf, während aus dem Gartensaal des stattlichen Anwesens wundersame, unbekannte Töne dringen. »Oh Lamm Gottes unschuldig«, singt ein Chor. Der Sohn des Hauses, 19, probt ein vergessenes Stück, die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach… Im selben Garten hat der junge Mann schon zwei Jahre zuvor »eine gränzenlose Kühnheit« komponiert, seine Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum und das ist bei Weitem nicht der einzige Beleg für seine unfassbar frühe künstlerische Reife.

Selten, vielleicht nie trafen sich Begabung und Umgebung auf so hohem Niveau wie bei Felix Mendelssohn Bartholdy. Er wuchs hinein in ein weit gespanntes und dichtes Netz von Künstlern, Intellektuellen, Wissenschaftlern. Ein geistiges Magnetfeld ohnegleichen, zwischen dessen polaren Kräften freilich auch enorme Spannung herrschte. Mendelssohn, dieser Glücksfall der jüdischen Emanzipation, der Verbindung zweier deutscher Kulturen, wurde gerade dieser Koordinaten wegen auch ein tragischer Fall. Die antisemitische Rezeption seiner Musik in Deutschland – von Richard Wagners Judentum-Pamphlet bis zur Mendelssohn-Ächtung im »Dritten Reich« – wirft immer noch Schatten auf die Diskussion über seinen Platz und seine Wirkung in der Musikgeschichte, über seinen Klassizismus, seine kulturelle Gespaltenheit, seine Modernität.

Wo gibt es das sonst, dass ein Künstler von Weltrang, schon von seinen Zeitgenossen bewundert und geliebt, 200 Jahre nach seiner Geburt halb verteidigt, halb entdeckt werden muss? Dass der Musikbetrieb den Termin nur beiläufig wahrnimmt, dass wesentliche Teile des Œuvres nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit sind, dass die präsenteren Werke überwiegend mittelmäßig gespielt werden – und hier und da befragt, ob sie nicht »zu harmlos« sind? Dass einer der bedeutendsten Briefschreiber der europäischen Kultur bis jetzt nur in thematisch begrenzten oder pietätvoll gefilterten Sammlungen zugänglich war? Nun liegt immerhin der erste Band einer Gesamtausgabe vor – mit 317 von 5000 Briefen. Der Rest soll in den nächsten sechs Jahren erscheinen…

Er kam aus dem Zentrum der jüdischen Aufklärung

Verglichen mit dem, was über andere Komponisten seines Ranges geschrieben wurde, klafft auch in der Literatur zu Mendelssohn eine gewaltige Lücke. Eine umfassende Biografie erschien erst 1963, noch mal siebzehn Jahre später wurde sie aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt. Eric Werner stellte in seinem Buch Mendelssohn in neuer Sicht die Frage nach der Identität des Komponisten zwischen Judentum und Christentum. Ihr geht, unter anderem, auch die zweite große Biografie nach, die wiederum ein Amerikaner schrieb. Larry Todds Felix Mendelssohn Bartholdy von 2003 liegt jetzt übersetzt vor. Materialreich wie kein Autor zuvor zeichnet Todd die Situation, in die Felix hineingerät. Mit seiner Geburt am 3. Februar 1809 in Hamburg erreicht ein kulturelles Projekt seine dritte Generation, das im 18. Jahrhundert in Dessau begann.

Dessau, wo Felix’ Großvater Moses zur Welt kam, war ein Zentrum der jüdischen Aufklärung und prägte Moses Mendelssohn, der zu einem der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit und zum Vorbild für Lessings weisen Nathan wurde. Moses’ drei Söhne werden Bankiers und Industrielle. Abraham heiratet eine Frau aus einer der reichsten jüdischen Familien Berlins. Lea Salomon, hochmusikalisch, schwört auf das Wohltemperierte Klavier; ihre Großtante hat das Klavierspielen noch bei Bachs Sohn Friedemann gelernt und in ihrem Salon Mozart empfangen. Auf so einem Level bewegt man sich da.

»Für wohlhabende Juden«, schreibt Todd, »stellte das Erlangen von Bildung einen wichtigen Schritt in Richtung Assimilation dar.«

Aber der Weg zu allen Rechten preußischer Bürger führte selbst nach dem Preußischen Judenedikt von 1812 nur über den Schritt zum Christentum. Abraham und Lea ließen ihre vier Kinder taufen und konvertierten später selbst. Und sie bezahlten Privatunterricht von einer Qualität und Spannweite, als rechneten sie mit Universalgenies. Es erwies sich, dass Felix und seine ältere Schwester Fanny sprachlich und musikalisch wahnwitzig begabt waren. Bald wagte man zu hoffen, dass hier ein zweiter Mozart heranwuchs. Kein Geringerer als Goethe unterzog den zwölfjährigen Mendelssohn dem Vergleich, immerhin hatte er das Wunderkind Mozart noch selbst erlebt. Goethes Freund und Felix’ Lehrer Carl Friedrich Zelter, ein knorriger Konservativer, hat das Treffen in Weimar arrangiert und professionelle Musiker dazugebeten.

Der Knabe improvisiert am Klavier und spielt vom Blatt aus Handschriften Mozarts und Beethovens, man begutachtet seine Stücke. »Was dein Schüler jetzt schon leistet«, befindet der Dichterfürst, »mag sich zum damaligen Mozart verhalten wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zum Lallen eines Kindes.« Felix schreibt der Familie über den »Polarstern der Poesie«: »Alle Nachmittag macht Goethe das Streichersche Instrument mit den Worten auf: ich habe dich heute noch gar nicht gehört, mache mir ein wenig Lärm vor.« Felix war auf dem Olymp angekommen – und übernahm nun gleichsam die volle Beweislast für den Triumph seiner Familie über alle Diskriminierungen. Zumindest wäre das eine These, mit der ein Biograf operieren könnte.

Denn es ist offenkundig, dass dieser Künstler je später, desto bewusster unter ungeheurer Spannung stand. Als neuer Mozart musste er, so sah es sein Vater, mit Opern reüssieren – doch alle Versuche scheiterten. Als getaufter Christ musste er Oratorien schreiben, und dem späten Elias ist anzumerken, dass er seine jüdische Herkunft weder abtun konnte noch wollte. Doch er war zugleich überzeugter Christ, dessen Sakralmusik auch jenseits der Oratorien von überwältigender Qualität ist. Als Kontrapunktiker trainiert »im Namen des alten Bach« und tatsächlich auf dessen Niveau, konnte er sich als Komponist nicht so unbedingt neu erfinden wie die Autodidakten Wagner und Berlioz, deren radikale Progressivität ihm notorisch vorgehalten wird.

Hier war einer sehr früh identisch mit seiner Begabung, geschult an der Musik einer vorigen Epoche, hellwach für die eigene Gegenwart, und hat wohl auch darum sein Leben lang um Identität gekämpft. Hinter dem »tragischen« ist ein spannender Fall zu entdecken, im Leben wie in der Musik. Doch die Auseinandersetzung damit wurde lange durch Richard Wagners 1850er Pamphlet gelähmt. Zuerst übernahmen viele seine Ansicht, Mendelssohn fehle, weil er Jude sei, die »wahre Leidenschaft« und »Individualität«, er könne nur »nachsprechen«. Manche folgten Wagner darin noch lange nach 1945, bei anderen war ernsthaftes Nachdenken über Mendelssohns Traditionsbezogenheit blockiert gerade durch die Furcht, damit wieder neben Wagner zu landen.

Biograf Todd, der doch mehr ein Materialsammler ist, hilft da nicht weiter. Es sind dafür Deutsche, die zwar bis jetzt große Biografien schuldig blieben, nicht aber kluge Gedanken zum Klassizismus. Wulf Konold hat in seiner Monografie von 1984 – unübertroffen in ihrer Differenziertheit – die Mehrsprachigkeit als Synthese gesehen, als »Aufhebung des Angeeigneten in einem Neuen«. Und Peter Gülke verwies 1996 auf »Katakomben« unter der perfekten Form.

Deutlich hört man die Risse in der Reformationssinfonie, von der der Komponist ironisch sagte, er arbeite daran, »ein Frommer zu werden«. Dieses Werk des Zwanzigjährigen ist fast ein autobiografischer Diskurs – vom Anfang, an dem mit der Jupitersinfonie das Modell Mozart beschworen wird, bis zum Finale, in dem Luthers Choral Ein feste Burg kontrapunktischen Eskapaden unterworfen wird, bei denen Bach die Ohren angelegt hätte. Spannend ist sein Verhältnis zu Beethoven. Andreas Eichhorn berichtet in einer neuen kleinen, tiefenscharfen Biografie, wie der 17-Jährige den Berlinern in einem Workshop die Neunte nahebrachte – doch Mendelssohn geht als Komponist andere Wege. Rainer Riehn erklärte den Unterschied 1980 in Musik-Konzepte: Während Beethovens Musik sich »prozesshaft« entwickele, lege Mendelssohn die Töne frei wie etwas »Präexistentes«, »gewaltfrei«, darin ein Vorläufer von John Cage.

Dieser Gedanke passt zu den Plateaus im Abendsonnenschein, von denen aus in den »klassizistischen« Quartetten ein 30-Jähriger froh-wehmütige Blicke wirft, Klanglandschaften, die vom Beethovenschen »Arbeiten« souverän entfernt sind. Vielleicht ist das auch eine Haltung in politisch und technisch beschleunigter Zeit, mit deren Tempo Mendelssohn es im Leben aufnimmt wie von seinen großen Zeitgenossen nur Hector Berlioz – beides Meilenfresser auf den Eisenbahnlinien, die Europa zusammenwachsen lassen. Mendelssohns Tourneekalender als Pianist, Organist, Dirigent ist noch heute atemberaubend. Dazu kommt die Leitung des Gewandhausorchesters, was den Musiker nicht hindert, auch ständig in England aufzutreten, wo man ihn liebt.

»London ist das grandioseste Ungeheuer der Welt!«

In London hat er den Puls des Frühkapitalismus gefühlt, gleich nach der Wiederaufführung der Matthäuspassion in Berlin. Acht Seiten umfasst in der exzellent kommentierten Gesamtausgabe sein Brief vom 25. April 1829: »Es ist entsetzlich! Es ist toll! Ich bin confus und verdreht! London ist das grandioseste und complicierteste Ungeheuer, das die Welt trägt. [] Seht die Läden mit den Manns hohen Inschriften, und die stage coaches, auf denen die Menschen sich aufthürmen, und wie hier eine Reihe Wagen von den Fußgängern hinter sich gelassen wird, weil es sich dort vor eleganten Equipagen gestopft hat, [] und wie die Menschen gebraucht werden, um Ankündigungszettel herumzutragen, auf denen man uns die graziösen Kunststücke gebildeter Katzen verheißt, und die Bettler, und die Mohren, und die dicken John Bulls mit ihren dünnen, schönen zwei Töchtern an den Armen.« Hätte Heine das besser gesagt?

Diesen Hellwachen sollte man wohl auch mitdenken in einer Musik, die das Disparate und Desperate ungern ausstellt – »Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider«, heißt es im Elias. Da ist Berlioz ganz anders, ein Antipode, mit dem sich Mendelssohn auseinandersetzt. 1831 verurteilt er die Symphonie fantastique noch als »Grunzen, Schreien, Kreischen«, zwölf Jahre später dirigiert er als Gewandhauskapellmeister dasselbe Werk zum Entzücken des Komponisten und zum Entsetzen des Leipziger Publikums, und die beiden tauschen ihre Dirigierstäbe: Mendelssohns »nettes, leichtes, mit Leder überzogenes Fischbeinstöckchen« gegen Berlioz’ »unbehauenen, mit der Rinde versehenen, ungeheuren Lindenknüppel«, wie Felix’ Schwester Fanny indigniert überliefert.

In solchen Spannungsfeldern könnte man Mendelssohns Ästhetik beleuchten, doch Todd liefert Konzertführerprosa. »Die Rückleitung zur Reprise ist besonders beeindruckend«, lesen wir zur Italienischen Sinfonie. »Gegen einen hohen Ton in der ersten Oboe gewinnen die Fanfaren allmählich an Kraft und gehen fließend in die transparenten Holzbläsertremoli über.« Das sagt nichts – während man sagen müsste, dass der hier so beiläufig erwähnte fließende Übergang ein Kunstmittel ist, von dessen Perfektionierung bei Mendelssohn seine Kollegen von Wagner bis Berg profitiert haben.

Aber auch dem Autor einer neuen Monografie fällt zu den Sinfonien kaum mehr ein, als dass sie »einem Mittelgebirge« zwischen Beethoven und Brahms zuzurechnen seien. Das erstaunt bei einem so eigenständigen Musikwissenschaftler wie Martin Geck. Doch auch an anderen Stellen seiner Einführung folgt er leidigen Klischees und überlegt, ob es Mendelssohn, dem »erfolgverwöhnten Künstler«, nicht »schlicht an der Leidensfähigkeit« etwa eines Richard Wagner gefehlt habe. Tatsächlich konnte man schon 1875 lesen, Mendelssohn wandele »auf lichten Höhen sorglos dahin«, weswegen es ihm an Tiefe fehle. Eines der zähesten Klischees überhaupt, und eines der groteskesten. Auch wenn man davon ausgeht, dass große Kunst ohne die Erfahrung gravierender Konflikte nicht zustande kommt – wer bestimmt, dass Beethovens Taubheit, Wagners Schulden, Mozarts Vaterkomplex kunsterheblicher sind als Mendelssohns Identitätssuche?

Und noch etwas belastet diesen Übersensiblen. Er hat seinen Weg auf Kosten einer Frau gemacht, die er vielleicht tiefer liebte als die Frau, mit der er fünf Kinder hatte: Fanny, seine Schwester, drei Jahre vor ihm geboren. Selten waren sich zwei Geschwister so nah, auch in der Begabung. Mit zwölf Jahren spielte Fanny alle 24 Präludien aus Bachs Wohltemperiertem Klavier auswendig, als Komponistin hatte sie kein geringeres Potenzial als ihr Bruder. Der fand wie sein Vater, die Musik dürfe für eine Frau »stets nur Zierde« sein, veröffentlichte aber Lieder von ihr unter seinem Namen und vertraute ihrem Urteil vollkommen. Beide blieben einander auch insofern treu, als sie relativ blasse Typen heirateten. Fannys Mann Wilhelm Hensel zeichnete sich einmal selbst als Bremsklotz an einem Familienrad, in dessen Mitte Felix saß…

Larry Todd hat gründlich diese Beziehung dokumentiert, und doch verkennt er ein Schlüsselwerk. In rasender Trauer um »Fenchel« schrieb Felix, kurz bevor er ihr im selben Jahr 1847 nachstarb, sein f-Moll-Streichquartett. Es zeigt einen so anderen, existenziellen, rücksichtslosen Komponisten, als hätte uns Mendelssohn bis dahin etwas verschwiegen. Und aus schwärzestem f-Moll gerät er im ersten Satz an eine Stelle, die seltsam vertraut klingt. Ein Fragment aus dem D-Dur-Präludium des Wohltemperierten Klaviers I wird da zitiert – aus den Klavierkindertagen der Geschwister. Todd, der sonst gern Zitate präsentiert, ist das nicht aufgefallen. Pflichtschuldig vermerkt er, dass Mendelssohn hier seine Klassizität hinterfrage, nennt den Tritonus als Grundmotiv, und das war’s.

Peter Gülke hat angesichts dieses abgründigen Quartetts gefragt, »ob in dieser Künstlerexistenz nicht ungeheuer viel uneingelöst geblieben ist«. Man könnte sich auch fragen, ob nicht umgekehrt in der Beschäftigung mit Mendelssohn ungeheuer wenig eingelöst wurde. Denn von Anfang an äußert er sich in seinem Komponieren konkreter und existenzieller, als er meist gespielt wird. Was Musik »ausspricht«, sagt er, »sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte«. Dass das für ihn allerdings auch eine Sprache der Zuversicht ist, macht ihn unter den Großen seines Jahrhunderts fast zur isolierten Gestalt. Robert Schumann fragte ihn einmal, ob er je daran gedacht habe, nicht Musiker zu werden. »Ein einziges Mal, antwortete er, an einem trüben regnerischen Tage – er habe da ›Jurist‹ werden wollen.«

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 02.02.2009