Ah, die Nerven! Das kenne ich!

Das leidenschaftliche Leben des Hector Berlioz, der vor 200 Jahren geboren wurde

In Belgien lag so viel Schnee, dass der Zug stecken blieb. Das ist zehn Tage her und eine Idylle, verglichen mit dem Eisenschlitten, in dem er jetzt friert, während durch Ritzen des Verdecks Schneestaub eindringt und die hart gefrorenen Furchen im Weg den Reisenden an die Wände schleudern, bis er Beulen hat und ihm übel ist. Vier Tage und Nächte von Tauroggen bis Sankt Petersburg, rund 1000 Kilometer Landstraße, davor schon die 2000 Kilometer ab Paris, wo Balzac ihn ermuntert hat: „Sie werden mit 150000 Franc zurückkommen, ich kenne das Land…“ Hector Berlioz ist verschuldet, Paris hat ihn ruiniert, es kann anderswo nur besser werden. Aber jetzt hat er Angst vorm Erfrieren. Raben folgen dem Schlitten und fressen den Pferdemist.

Berlioz denkt an die Vernichtung der Grande Armée im russischen Winter, vielleicht denkt er auch an all die Reisen, die er schon überstanden hat, an Seenot und Raubüberfälle, an Dampflokomotiven und Postkutschen, an Berlin, Wien, Prag, Budapest, wo man ihn voriges Jahr gefeiert hat. Er ist, mit 43 Jahren, berühmt in Europa, da können die Pariser machen, was sie wollen. Vor wenigen Tagen ist der preußische Postmeister in Tilsit, als der Reisende seinen Namen nannte, unter Rufen der Begeisterung aufgesprungen, die Mütze in der Hand, und hat Curaçao serviert. Das wird Berlioz seinem Vater erzählen, falls er heil nach Frankreich zurückkommt, diesem wackeren Arzt in einem Städtchen bei den französischen Alpen, der so energisch zu verhindern versucht hat, dass sein Sohn ein Komponist wird.

Andererseits hat er ihn, der am 11. Dezember 1803 zur Welt kam, Hector genannt, „der Widerstehende“, nach jenem Helden Trojas, den nur Poseidon beugen konnte. Und er hat ihn selbst auf die Spur der Künste gebracht. Er lehrte ihn Latein, las mit ihm Vergils Äneis, brachte ihm Flötenspiel und Notenlesen bei. Er besaß Reisebeschreibungen, die Hectors Fernweh entflammten, gern wäre der Junge Seemann geworden. Aber La Côte-Saint-André liegt fern der Küste. Eine andere Neigung hatte er als Achtjähriger entdeckt, als er seine ältere Schwester in die Kirche begleiten durfte und die Hostie empfing. „Da ertönte, von jungfräulichen Stimmen gesungen, ein Abendmahlslied… Ich glaubte, den Himmel offen zu sehen. O wunderbare Macht des Ausdrucks! O unvergleichliche Schönheit der Melodie des Herzens!“

Er sang, während er Schädel zersägte

Mit 12 Jahren verliebt er sich unter dem Spott der Umgebung in eine 18-Jährige und beginnt Romanzen zu komponieren. Eine davon hat er nicht verbrannt. Ihr entstammt, wenn man ihm glauben darf, das Geigenthema, mit dem die Symphonie fantastique des 26-Jährigen beginnt. Das Tempo, in dem er sich bis dahin als Komponist entwickelt hat, lässt es möglich erscheinen, dass das weit geschwungene, mysteriös aufgeladene erste Thema der Sinfonie tatsächlich schon der Fantasie des Knaben entsprang.

Dessen wachsende Musikleidenschaft beunruhigt den Vater. Er befiehlt den 17-Jährigen zum Medizinstudium in Paris. Da steht Berlioz in der Anatomie und singt, während er Schädel zersägt, Arien aus den Opern, die in der Hauptstadt gespielt werden. Für ihn, der bis dahin kaum anspruchsvolle Werke kennt und sich die Harmonielehre selbst beigebracht hat, ist das Pariser Musikleben Wasser unter dem Kiel seiner Träume, die Begegnung mit Glucks Oper Iphigenie treibt ihn endgültig aufs Meer. Er nimmt Kompositionsunterricht. Er bricht das Medizinstudium ab und der Vater die Zahlungen, die Mutter verstößt ihn. Als strenge Katholikin hält sie eine Künstlerlaufbahn für sündhaft. Das erste Stück, mit dem er sich an die Öffentlichkeit wagt, ist eine Messe.

Für die Uraufführung fehlen ihm, der sich als Chorist in Vorstadttheatern durchschlägt, 1200 Franc. Der 21-Jährige schreibt in seiner Verzweiflung an Chateaubriand. Antwort des Schriftstellers und Staatsmanns: „Die Prüfungen, welchen das Talent manchmal ausgesetzt ist, verhelfen ihm zum Sieg.“ Es findet sich ein anderer Geldgeber, und die Uraufführung wird ein Erfolg, dessen Anlass wir überprüfen können, obwohl Berlioz später die Noten verbrannte. Er hat einem Geiger statt der Gage das Autograf gegeben, das 1992 auf der Orgelempore einer Antwerpener Kirche zum Vorschein kam – wie so viele Facetten dieses Mannes erst im 20. Jahrhundert entdeckt wurden.

John Eliot Gardiner nahm diese Messe auf, erratische Musik, großräumig und herb, mit bizarren Accelerandi zwischen Klangpfeilern, von fragmentierten Motiven wie von Blitzen durchzuckt. Die zeitgenössischen Vorbilder, deren Einfluss auf seine Musik dem jungen Komponisten peinlich war, verblassen für uns hinter seltsamer Faszination – es ist Mondgestein darin, traditionsfremde Materie, die vielleicht nur einem solchen Autodidakten erreichbar ist. Teile daraus übernimmt er unter anderem in die Symphonie fantastique, deren Schicksalsthema er wiederum schon in einer Kantate ersonnen hat. An dieser Sinfonie zeigt sich Berlioz’ Werkstatt als brodelndes Recyclinglabor, doch um alle Essenzen miteinander reagieren zu lassen, braucht es Katalysatoren.

Sie heißen Smithson, Shakespeare, Goethe, Beethoven. Harriet Smithson ist eine irische Schauspielerin, die in Paris als Ophelia und Julia gefeiert wird und in die sich Berlioz so flammend verliebt, wie er fortan Shakespeare verehrt. In Nervals Übersetzung berauscht ihn Goethes Faust. Zugleich werden, kurz nach Beethovens Tod, dessen Sinfonien in Paris bekannt – für Berlioz eine „neue Welt“, die ihn dazu bringt, als Komponist „über Berg und Tal, durch Wald und Feld meinen Weg zu nehmen“. Er tut es im Jahr der Julirevolution 1830, und damit beginnt ein neuer Weg in der Musik.

Die Sinfonie heißt im Untertitel Episode aus dem Leben eines Künstlers. Es ist eine autobiografische Musik von unglücklicher Liebe und opiumumwallten Gewaltfantasien, am Ende taucht im Hexensabbat die Geliebte als grelle Dirne auf, ihr einst so flehend schönes Thema (eine idée fixe, lang vor Wagners Leitmotiven) wird zerfetzt wie der Begriff einer absoluten Musik, die über dem Leben schwebt. Hier tobt ein Individuum und eignet sich die Möglichkeiten eines Orchesters an. In jäh gegeneinander geschnittenen Klangmischungen ist selbst Harmonik keine Basis mehr, sondern Farbe und Material. Bei Berlioz’ musikalischen Zeitgenossen findet man dazu keine Parallelen. Eher beim Maler Delacroix, was die Explosivität der Farben angeht, und bei den Schriftstellern, die von Hoffmann bis Hugo den Künstler zum entfesselten Prometheus machen.

Die hat Berlioz, mittlerweile 35, dringend nötig. Zwar kennt man ihn in Paris, er hat sein Requiem uraufgeführt und seine Oper Benvenuto Cellini. Aber die wurde massakriert – zu irritierend war ihr Stilgemisch. Von Erfolgen, wie Meyerbeer sie mit seinen hollywoodmäßig kalkulierten Opern erzielt, kann Berlioz nur träumen, der Musikbetrieb lässt ihn als Exoten zappeln. Als Musikbibliothekar am Konservatorium verdient er 118 Franc im Monat, was ihn nötigt, Feuilletons zu schreiben. Er wird es tun, bis er 60 ist. Er hasst die Zeitungsarbeit, aber er schreibt fantastisch. In seinen Kritiken, Polemiken, Erzählungen, subjektiv, radikal, ironisch, wird das Pariser Musikleben seit 1835 bis auf den Sou durchleuchtet; die Bände, in denen das gesammelt erscheint, bilden mit den Memoiren eine wahre comédie humaine musicale.

Wir erleben Intriganten und Enthusiasten, Dirigenten, die Einsätze verpassen, Zuhörer, die Stühle zerschlagen, Idealisten, die sich die Kugel geben, revoltierende Orchestermusiker, vergiftete Komplimente, verstimmte Instrumente, Sänger, die zu Tränen rühren oder mit ihren Verzierungen die Musik verwüsten. Mit diesen Texten wird er als Journalist berühmt, macht sich aber Feinde bei denen, die er bräuchte, um seine Musik durchzusetzen. Noch der 58-Jährige bietet seine neue Oper Les Troyens vergeblich der Opéra an. Man produziert dort stattdessen Richard Wagners Tannhäuser. Das ist umso bitterer, als die archaisch expressiven Trojaner eine der wenigen ernst zu nehmenden Alternativen zu Wagners musiktheatralischer Ästhetik sind, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte. Colin Davis zeigte 1970 als Erster mit einer phänomenalen Einspielung, welches Atlantis hier versunken ist.

Ab 1842 sucht Berlioz den Erfolg, den Paris seiner Musik verweigert, auf Reisen, vor allem in Deutschland, „wo die Begeisterung noch lebt“. Man muss sie nur wecken. „Was will dieser Franzose? Warum bleibt er nicht zu Hause?“, fragen sich, wie ihm scheint, die Musiker von Frankfurt bis Berlin, Hamburg bis Stuttgart, wenn er ihnen seine Noten aufs Pult stellt, durch nichts legitimiert als durch den schillernden Ruf, der ihm vorauseilt. Oft taucht er unangemeldet auf und überfällt eine lokale Musikautorität wie den Musikverleger Schott in Mainz, der schläfrig antwortet: „Sie können hier … kein Konzert geben… Wir haben kein … Orchester… wir haben kein Publikum… wir haben kein Geld!“

Anderswo bringt er es, des Deutschen nicht mächtig, fertig, dass man ihm ein Orchester zur Verfügung stellt, schreibt, wenn kein Englischhorn da ist, die Stimme für Oboe um, probt wie ein Besessener, und wenn im Konzert alles gut geht, schreit das Publikum vor Begeisterung. Den Braunschweigern entgilt er ihren Jubel besonders hintersinnig – im Science-Fiction Euphonia errichtet er eine ideale „Stadt der Musik“ im Harzvorland des Jahres 2344. Freunde und Bewunderer sind auch Liszt in Weimar und der Musikwissenschaftler Ambros in Prag, wo man den Franzosen und seine Sinfonie Roméo et Juliette feiert wie einst Mozarts Figaro.

Das modernste Verkehrsmittel ist ihm bei seinen Reisen kaum schnell genug, er spottet im fiktiven Rückblick aufs 19. Jahrhundert: „Die Reisenden, welche in jener Epoche anmaßender Barbarei in schweren, von Dampf getriebenen, auf eisernen Schienen dahinrollenden Wagen zehn bis zwölf alte französische Meilen in der Stunde durchfuhren, empfanden über diese schnelle Lokomotion einen lächerlichen Stolz.“ Diesen Fortschrittsstolz empfindet er aber auch selbst. Er frohlockt, als er 1845 an der Donau von der Postkutsche in einen „eleganten und schnellen Dampfer“ umsteigen kann, noch lieber wären ihm lenkbare Luftschiffe, wie er sie in Euphonia ersinnt. Andererseits passt es ihm auch, in einer alten deutschen Postkutsche den Faust zu komponieren.

Zwischen Epochen unterwegs, in Kutsche und Eisenbahn

Die Damnation de Faust ist sein Mitbringsel für Paris. Rund 8000 Euro kostet ihn allein die Saalmiete für zwei konzertante Aufführungen dieser Oper, dazu kommt das Abschreiben der Noten, die Honorare für Sänger und Orchester. Wer nicht kommt, sind die Pariser. Halb voller Saal, Verlust rund 15000 Euro. Auf nach Russland. Zwei Wochen Reise, Berlioz übersteht die Schlittenfahrt. Er kommt, „vor Kälte ganz zusammengeschrumpft“, am Sonntagabend des 28. Februar 1847 in St. Petersburg an. Kaum ist er eine Stunde im Hotel, sucht ihn ein Musikliebhaber auf, den er aus Paris kennt. Man weiß, woher auch immer, von seiner Ankunft. Ein Empfang ist organisiert mit allen Autoritäten der Stadt. Man ist entzückt, ihn hier zu sehen. Am nächsten Tag wird ein Orchester zusammengestellt. Berlioz darf proben, soviel er will, die Aufführung seines Faust wird ein Triumph, später auch Roméo et Juliette, die Musik, in der sein Italien geborgen ist, seine alte Liebe zu Harriet, zu Shakespeare. Im Publikum sieht er Uniformen, Epauletten, Helme, Dekolletés und Diamanten glänzen. Man jubelt ihm zu, immer wieder wird er auf die Bühne gerufen, er, der mit nichts herkam als einem Packen Noten und dem Dirigentenstab. Hinterher in der Garderobe muss er weinen. Der Geiger Heinrich Wilhelm Ernst, ein deutscher Virtuose, findet ihn. „Ah“, sagt er, „die Nerven! Das kenne ich!“ Und hält ihm den Kopf, eine Viertelstunde lang, und Hector Berlioz weint „wie ein hysterisches Mädchen“.

Die Schulden sind getilgt, auch wenn Balzac zu viel versprach: Statt 150000 bringt Berlioz 15000 Franc zurück. Aber Paris bleibt, wie es ist, widersteht ihm wie Poseidon dem Hektor und zermürbt ihn, bis er am 8. März 1869 stirbt. Nach 6 Opern, 30 groß besetzten Werken, Tausenden von Texten, einem zerfetzten und zusammengeknoteten Leben, zwischen Epochen rasend auf Kutsche und Eisenbahn, Ritter, Romantiker, Realist, der in Industriehallen 1000 Musiker koordiniert und die Antike mit Saxofonen färbt, als Schwärmer, der mit 60 vor der Frau kniet, die er mit 12 verehrte. Der wünscht, Gluck im Himmel möge von ihm sagen: „Wahrlich, das ist mein Sohn.“ Ein leidenschaftlicher Mensch. Ein Glück, dass er gelegentlich verstanden wurde, auch wenn er dafür einmal 3000 Kilometer weit durch den Winter reisen musste.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 11.12.2003