In Seufzern abwärts

Der Komponist Carlo Gesualdo hat seine Frau und ihren Liebhaber ermordet – und danach die wundervollsten Madrigale komponiert.

Hühner scharren im trockenen Lehm, eine Kuh blickt auf, eine Ziege. Aus dem Schatten alter Mauern treten Bewohner und gucken misstrauisch. Ein Fremder ist gekommen, ein kleiner alter Mann. Er spricht mühsam Italienisch und möchte das Schloss besichtigen. Ein Komponist habe hier gelebt, sagt der Alte. Er deutet auf die Inschrift im Sims: CAROLVS GESVALDVS.

Den kennen sie nicht. Der Alte stellt sich vor: Igor Strawinsky, Komponist. Ebenfalls unbekannt. Aber gut, er darf ins Schloss. Bröckelnder Putz, billige Möbel. Der Alte sagt, sein Kollege habe nicht nur Musik geschrieben, sondern auch seine Frau umgebracht. Sie verstehen ihn falsch und blicken beunruhigt: Dieser Strawinsky hat seine Frau umgebracht?

So etwa verlief der Besuch, den der große Russe im Sommer 1956 seinem toten Kollegen abstattete, 100 Kilometer östlich von Neapel. Er hat ihn später geschildert. Die Szene steht am Anfang einer langen Wiederentdeckung. In den Jahrzehnten seither hat der Vergessene wieder Gestalt angenommen – als gäbe es eine Nähe zwischen seiner Epoche und unserer Zeit: Carlo Gesualdo, 1566 geboren, 1613 gestorben, ist eine gefährliche Gestalt.

Doppelmörder war er, Tyrann, Masochist, Melancholiker und Komponist, der jeden Maßstab infrage stellt. Das reizte nicht nur Romanautoren. Werner Herzog ist mit einem Fernsehfilm am Stoff gescheitert, Kompositionen über Gesualdo häufen sich, allein zwei Opern sind in den letzten Jahren entstanden. Glenn Watkins’ grundlegendes Buch über den Komponisten ist in diesem Herbst in deutscher Sprache erschienen. Und erstmals seit 400 Jahren gibt es Leute, die seine Stücke wirklich singen können. Doch je näher man diesem Fürsten von Venosa und Meister des Madrigals kommt, desto mehr entzieht er sich. Wer in der Glut seiner Töne schwelgen will, kann ins Eiskalte geraten, wer den Menschen sucht, hält Knochen in der Hand.

Zunächst war Carlo Gesualdo da Venosa ein Fürst wie andere im Cinquecento auch. Gewohnt, sich von vier Bedienten das Nachtmahl ans Bett bringen zu lassen, wichtigere Reisen mit einem Gefolge von 150 Leuten anzutreten und das Vermögen zu verwalten, das seine normannische Familie seit 1059 zusammengerafft hatte dort, wo sich jetzt die Landstraße 303 durch eine hübsche Hügelgegend schlängelt.

Er hatte eine glänzende Musikausbildung genossen. Sein Vater beschäftigte mindestens zwölf Musiker, die Hälfte davon Komponisten. Häufiger Gast im Schloss war auch der Dichter Torquato Tasso, ein Freund des jungen Carlo, den er immer wieder lyrisch würdigte. Um das Geld in der Familie zu halten, hatte man Carlo, als er 19 war, mit einer Cousine verheiratet, Maria d’Avalos. Sie war 25, klug und schön und schon zweifache Witwe. Ihr erster Mann war angeblich “dem übermäßigen Genuss ehelicher Wonnen” erlegen. Es wird behauptet, dass sie auch mit Carlo anfangs “eher wie ein Liebespaar statt wie Mann und Frau” zusammenlebte.

Wenn das so ist, muss der junge Mann, hoch begabt, hoch vermögend, vom Himmel in die Hölle gefallen sein, als Maria sich mit ihm zu langweilen begann und sich in Fabrizio Carafa, den Herzog von Andria, verliebte. Auf einmal wurden die Abgründe real, die Schmerzen, von denen man seit einem halben Jahrhundert in seinen Kreisen so stilvoll sang. Er soll es zuerst nicht geglaubt haben.

“Wenn du mir dich zu lieben verwehrst, ach, nur daran zu denken – der Schmerz tötet mich, und die Seele entflieht im Flug.” Wer heute so einen Text liest, spürt das Floskelhafte, entdeckt im “Ahi”, dem “Ach”, der fliehenden Seele die höfische Pose. Doch wer hört, was Gesualdos fünf Stimmen daraus machen, erschrickt. Man kann gleichsam dem Schmerz beim Töten zuschauen. Da es Liebesschmerz ist, beginnt er sanft auf den Worten “il duol”, “der Schmerz”, bei denen zwei Stimmen liegen bleiben und zwei gemeinsam nach oben steigen, von B-Dur nach Es-Dur. Zu “m’ancide”, “tötet mich”, gleitet der Sopran noch einen Halbton höher.

Seine Satzkunst weist voraus ins 20. Jahrhundert

Und dann geraten diese Bewegungen in eine Harmonik, für die es kein System gibt, nicht im Mittelalter, nicht bei Palestrina, nicht bei Bach und schon gar nicht bei Wagner, der viel mehr Rücksicht auf tonale Zentren nimmt, als er uns weismacht. Erst nach ihm findet man Bodenlosigkeiten wie bei Gesualdo – dann aber ohne dessen Notwendigkeit.

Der lässt auf einen A-Dur-Septakkord, dem das A fehlt, Es-Dur folgen, und solche Harmonik deckt sich mit Stimmenführung und Wortausdeutung. Der Schmerz tötet langsam und will, da er doch an die Liebe erinnert, wiederholt werden. Da, wo uns das Es-Dur schockiert, beginnt “il duol” noch einmal tiefer, diesmal ohne den Sopran, der sozusagen schon gestorben ist.

Carlo Gesualdo komponierte das zehn Jahre nachdem er zum Mörder geworden war. Im Untersuchungsbericht der Gran Corte della Vicaria zu Neapel vom 27. Oktober 1590 ist alles nachzulesen: Maria, seit fünf Jahren mit Carlo verheiratet, hatte ihre Liaison mit Fabrizio immer unvorsichtiger betrieben. Letzterer soll kurz nach vier Uhr morgens auf der Straße gepfiffen und dann die Gemächer Marias im Stadtpalais Gesualdos betreten haben. Eine Stunde später wurde er dort, mit einem Damennachthemd bekleidet, erschossen. Das besorgten drei Diener des Fürsten, der dann erst selbst den Raum betrat und seine Frau tötete. Er hat ihr danach “noch einige Wunden” zugefügt mit den Worten: “Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist.” Der Zustand der Leichen, den die Richter vor Ort protokollierten, bezeugte die ausgiebige Anwendung von Messern, Dolchen, Hellebarden, Schwertern und Handfeuerwaffen.

Dass Schwertstöße durch die Körper tief in den Boden gedrungen waren, gehört noch zu den schlichteren Details dieser Schlachtung. Nach herrschendem Konsens war es eine Sache der Ehre und der Gehörnte im Recht. Man fand nur stillos, dass auch Schergen aus dem Pöbel Hand an erlauchte Personen gelegt hatten. Tasso schrieb zwei tränenreiche Sonette, in denen er keinem einen Vorwurf machte. Vermutlich wäre Carlo Gesualdo dennoch verfolgt worden, hätte er nicht zur aristokratischen Elite gehört. Kaum vorstellbar, dass sein Zeitgenosse Monteverdi, ein Handwerkerssohn, nach so einer Tat noch weit gekommen wäre. Das Gericht legte den Fall zu den Akten, und Gesualdo ließ für alle Fälle ein Kloster mit Kapelle bauen. Immerhin hatte er gegen das fünfte Gebot verstoßen.

Um von seiner Musik getroffen zu sein, muss man nicht an seine blutigen Lebenserfahrung in Sachen Liebe und Tod denken. Sie wäre belanglos ohne die poetische Ausdruckskraft, die sich bei allen großen Madrigalkomponisten findet. Arcadelt, Willaert, Rore, Marenzio, de Wert, Gabrieli und Hunderte andere haben mitgewirkt am differenziertesten gemeinsamen Vokabular, das es in der Musikgeschichte je gegeben hat. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten sich Worte und Töne eher unabhängig voneinander bewegt, menschliche Affekte waren kaum der Gegenstand polyphoner Musik. Dann entwickelte sich, zuerst an Petrarcas Lyrik, eine Gefühlskunde, die für jede Textnuance eine klingende Entsprechung suchte, für Angst und Freude, Licht und Schatten.

Das war kein starrer Katalog, sondern eine flexible Übereinkunft. Auch wenn sich für “Flucht” schnelle Notenwerte empfahlen und für “Seufzer” Halbtonschritte abwärts, blieb unendlich viel Platz für Wagnisse der Textausdeutung und der Kontrapunktik, und die Kürze dieser Madrigale steigerte ihre Attraktivität und Beweglichkeit.

Immer wenn die “maniera”, der Konsens über guten Stil, zu erstarren drohte, reagierten die Komponisten. Das Madrigal wandelte sich ständig. Es war ein hundertjähriges Projekt von Musikern aus ganz Europa, die an Italiens Fürstenhöfen konkurrierten, einander huldigten, verbesserten, ausspähten. Die meisten Menschen hörten davon allerdings keinen Ton. Das war musica riservata für eine kleine Oberschicht, deren literarisches, künstlerisches, musikalisches Gespür für Qualität von keiner Machtelite wieder erreicht wurde. Sie hatten Sinn für Genies. Gesualdo ist der einzige Fürst aus dieser Goldwelt, der selbst zum Genie wurde.

Als vor knapp fünfzig Jahren ein paar Enthusiasten in Los Angeles Gesualdo aufführten, saß Aldous Huxley im Saal und war gefesselt von dieser Terra incognita, “fremd und schön”. Ein verstummtes Jahrhundert wurde hörbar. Für uns sind Aufnahmen jener Zeit bestenfalls rührend, man sang mit Vibrato, undeutlich, zäh. “Selbst die hervorragendsten Sänger”, fand Strawinsky noch 1968, “wären nicht in der Lage, die Homogenität des Klanges, die exakte Intonation zu erreichen.” Er forderte jene “festen Madrigalkonsortien”, die es inzwischen, beinah auf dem Niveau der Fürstenhöfe von einst, zu Dutzenden gibt, vom Deller-Consort bis zu Les Arts Florissants.

Erst das Concerto Italiano unter Rinaldo Alesandrini hat in diesem Jahr überragende Technik mit geradezu erotischer Sensibilität vereint, gleichzeitig setzen Andrew Parrot und das Taverner Consort neue Maßstäbe. Sie verbinden Präzision mit Heftigkeit, sie singen glasklar und expressiv. Wer danach dieselben Werke mit dem Hilliard Ensemble hört, noch 1992 als Nonplusultra gefeiert, empfindet sie als kontrastlose Meditationsklänge für New-Age-Konsumenten.

In der Spätrenaissance gab es die besten Sänger in Ferrara. Und dort, an einem der musikalischsten Höfe der Zeit, erlebte Gesualdo seine Selbstfindung als Komponist. Den Weg dahin bahnte ihm der Mord. Denn der Fürst war nun Witwer und als reicher Neffe eines Kardinals idealer Heiratskandidat für die Familie d’Este. Er zögerte nicht. Im Februar 1594 reiste er zur Hochzeit mit Leonora d’Este nach Norden. Auf der Fahrt spähte ein Abgesandter der Estes den Neuen aus. “Er trägt einen Überrock so lang wie ein Nachthemd. Er redet viel, und nur seine Züge verraten seine Melancholie. Über Musik sprach er so lange, dass ich in einem ganzen Jahr nicht mehr gehört habe.”

Zwei Madrigalsammlungen hatte Gesualdo schon im Gepäck. Sie waren meisterhaft, aber nicht ungewöhnlich. Erst was er hier komponierte, wurde persönlich, harmonisch schwerer zu fassen, meist in den letzten paar Takten eines Stücks. “Man kann nicht sterben durch Schmerz und Qual allein”, “süßer, seltsamer Tod” – bei solchen Wendungen verließ er die Konvention.

Er quälte sein zweite Frau und bangte um sein Seelenheil

Seine Zeitgenossen schlugen einen anderen Weg ein. Sie entfernten sich von der komplexen Polyphonie, hin zur Dominanz einer Stimme, letztlich zur Oper. Gesualdo war so gesehen konservativ. Seinen Ausdruckswillen hielt er mit der Kontrapunktik in Schach. Die Madrigale, die er wieder zu Hause im Süden schrieb, expandieren nach innen – wie beim erwähnten “il duol”. Glenn Watkins spricht von den “labyrinthischen Ausmaßen eines so kleinen Kosmos”. Wer dem in die letzten Verästelungen folgt, in den “hautwandigen Raum”, den Komponist Wolfgang Rihm da erlebt, fühlt Luft vom anderen Planeten, aber keine Geborgenheit. Keine Wärme wie bei Monteverdi. Das Menschliche ist woanders, wohl im Willen, der diese Musik in ihren zwingenden Zustand treibt. Er quälte seine zweite Frau, die sich – fern vom mondänen Norden – eingesperrt fühlte, schlug und betrog sie und verewigte sie zugleich auf einem Altarbild. Gesualdo war zunehmend in Angst um sein Seelenheil. Er sammelte Reliquien und bestellte 1609 ein Bild für die Kapelle, die er nach dem Doppelmord gestiftet hatte: Da lodern zwischen ihr und Gesualdo die Flammen der Verdammnis, aus denen ein nacktes Paar errettet wird.

Ein ängstlicher Tyrann. Doch seine Kirchenmusik aus diesen Jahren übertrifft in ihrer Reife selbst die Madrigale. “Die einstigen Regelübertretungen”, schreibt der Musiktheoretiker Johannes Menke, prägen nun “eigene standardisierte Formen” aus, “die eine neue harmonische Einheitlichkeit erzeugen”. Latein und Liturgie scheinen den Komponisten von seiner Subjektivität zu erlösen, ohne seine Vorstellungskraft zu mindern. Die Architektur wird größer und kalkulierter, und in ihr leuchten auch schlichte Wendungen wie die Moll-Dur-Aufhellung für die Stimme des sterbenden Jesu so auf, dass es einen überwältigt.

Derselbe Verstörte, der sich dreimal täglich auspeitschen lässt, weil ihm das wohltut, schreibt zu den “plaga crudeli”, den “grausamen Schlägen” der Responsorien, eine souverän verdichtete Vorhaltsharmonik. Wird sie gesungen, hört man einander überflutende Wellen, sie birgt schon alles, was Bach 100 Jahre später in umfassendere Ordnungen hob. Die Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg haben Gesualdo staunend entdeckt als einen, der vor ihnen den Rand der Musik erreichte. Aber er bleibt doch fern. Wolfgang Hildesheimer hat 1960, in Tynset, Carlo Gesualdos Sterbebett beschworen, “verdunkelt mit einer schweigenden samtenen Dunkelheit, heraldisch eingefasst, einer fürstlichen feudalen Dunkelheit, wie die Armen sie nicht kennen”. Und hinter ihr liegt die Helligkeit einer Zeit, in der sich die Sonne noch um die Erde gedreht hat.

Musik von Carlo Gesualdo:
Tenebrae, Taverner Consort (Sony Classical 62977)
dolorosa gioia, Concerto Italiano (opus 111 30-238)

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 3.11.2000