Chips mit Lenni und Kropotkin

Ich werde geweckt von ein paar freundlichen Worten, die ich nicht verstehe. Von einer hellen, feinen Stimme. Von Lenni, dem vierjährigen Sohn der Freunde der Freunde, bei denen ich auf der Matraze übernachtet habe. Ich verstehe Lenni nur zum Teil, nicht etwa, weil er undeutlich spräche, sondern weil sein Wortschatz um ein Vielfaches größer ist als meiner. Im Französischen jedenfalls. Lennis Papa ist Franzose, seine Mama Deutsche, sie leben in Frankreich, also spricht der Knabe vor allem Französisch.

Er ist heute mein Lehrer, ein sehr guter Lehrer, er spricht nicht zu schnell, sehr deutlich, er hat Geduld, er korrigiert, indem er etwas nicht ganz richtiges korrekt wiederholt oder, noch eleganter, innerhalb einer Antwort. Fangen wir wir mit etwas Leichtem an, hat er sich gedacht und mir zuerst seinen Stoffhund neben das Lager gelegt. „Ton chien“, sage ich. Er lächelt. „Il s´appelle Kropotkin“, sagt er, ich wiederhole das. Gut. Lenni verschwindet und kommt mit einem Puzzle zurück, einem Schiff voller lustiger Piraten.

„Oh“, sage ich, „très beau. Un bateau avec des pirates!” Der Knabe ist angetan von meinem Wortschwall und steigert die Anforderung mit mehreren Sätzen, aus denen ich, da sie „puzzle“ enthalten, schließen darf, dass er es mit mir zusammensetzen will. Als nächstes kommt ein Schälchen Chips vom Vorabend. Ich lasse Kropotkin davon kosten. „Mjam“, macht der Hund, „crunch, crunch“, er frisst gierig fast die ganze Schüssel leer. Sprachlich keine Hochseilartistik, als Szene ein großer Erfolg. Lenni lacht, dann hält er mir einen Chip hin.

„Il faut manger pour travailler mieux“, sagt er, ich lache. Ich soll Chips essen, um besser arbeiten zu können, das heißt, zu puzzeln. Na schön, fangen wir an. Nach einer Weile fällt mir ein, dass ich mal duschen sollte, ehe die Freunde zum Frühstück rufen. Herrje, wie sage ich das? „Je vais au bain“, sage ich, „pour faire une douche et pour nettoyer les dents.“ Garantiert ist das grauenhaftes Barbarenfranzösisch. Dafür bin ich als Gymnasiast ein Jahr lang jeden Donnerstag bis zur siebten Stunde geblieben? Teutonischer Trottel!

Zur Strafe wird mir, stelle ich mir vor, höhernorts das Visum für jede Annäherung an den gallischen Kulturkreis entzogen, und vorher muss ich den (übersetzten) Roman von Patrick Modiani aus meinem Reisegepäck persönlich in der Bibliothèque nationale in Paris abgeben. Ach was, nichts dergleichen geschieht. Lenni sagt: „Jetzt gehst du duschen und dir die Zähne putzen, und danach kommst du wieder und wir puzzeln weiter, ja?“ Auf französisch, naturellement, es klingt total edel, leider kann ich es mir nicht merken.

„Bon courage“, sagt er noch, als ich gehe, „sei guten Muts!“ Ja, das bin ich. „Weisst du, was er gestern gesagt hat?“, meint Lennis Papa, als wir nach dem Puzzeln zum Frühstück erscheinen: „Hier gibt es zu viele Deutsche!“ Womit der Vierjährige natürlich nicht Paris 1940 meint, sondern Erwachsene, die seine Heimatsprache nicht kennen. Aber das wird schon. Bon courage!

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