Mozart und das Hausverbot

Über säulengesäumte Steintreppen, labyrinthische Seitenstiegen und lange Korridore kommt man dorthin, nach oben, immer stiller wird es im gewaltigen Gebäude. Am stillsten ist es am Ziel, in diesem Saal, wo zwischen den Buchdeckeln eigentlich mehr zu hören ist als in jeder anderen Abteilung. Hier stehen die Bücher über Musik. Hier will ich nachlesen, ob Mozarts Mutter in ihren Briefen irgendeine düstere Vorahnung hat merken lassen, die Reise nach Paris betreffend… Wo finde ich wohl diese Briefe, frage ich leise die Bibliothekarin, von der Saalstille wie von einer Wolldecke umhüllt. Sie sagt noch leiser, flüsternd: Auf der Galerie. Signatur TMO.

Die Bibliothekarin sitzt hinterm dunklen Holz eines Kontrollgevierts neben der einzigen Tür. Von ganz ferne blickt sie durch ihre große Brille, als stünde sie innerlich hinten in einem Gang zwischen Büchern und Jahren. Man ist hier fern der Welt. Durch die hohen Bogenfenster fällt diffuses Licht aus einem bewölkten Tag, ohne dass man hindurchsehen könnte. Jedenfalls ist mir in der Erinnerung, als seien die Fenster transparent verhängt gewesen, aber vielleicht war auch nur mein Bewusstsein transparent verhängt durch diese Stille, in der fast reglos noch drei weitere Benutzer an Tischen saßen.

Ich hatte den betreffenden Briefband gleich gefunden. 7. März 1778. Tatsächlich war es Mozarts Mutter nicht sehr wohl bei dem Gedanken an Paris. „Weill gott es so haben will so mus es geschehen“, schrieb sie ihrem Mann, dabei wollte er die Reise und nicht Gott, sie nicht und ihr Sohn auch nicht. Der schrieb eine Woche zuvor einen versauten Brief an seine Cousine, wie zur Entspannung. „Dreck, schmeck und leck…“ Und als ich das las, geschah es.

Mit ungeheurem Getöse platzte ein Klingelton in den Saal, digital, vulgär, ein Reißer aus Griegs „Peer Gynt“, wie ich sofort wusste. Es war mein Handy. Ich riss es aus der Hose, stoppte die Explosion, erhob mich möglichst gemessen und strebte dem Ausgang zu. Als ich an der Bibliothekarin vorbeikam, verkündete das Funkgerät mit Akkorden laut wie eine Bahnhofsansage den Eingang einer Kurzbotschaft. Die Frau erhob sich. Sie blickte nicht mehr wie von fern. „Das erste Mal habe ich noch überhört. Aber zweimal… Sie kennen die Hausordnung. Ich muss Sie bitten, den Saal zu verlassen. Bringen Sie Ihre Bücher weg und …“ Mit einer Geste von priesterlicher Autorität wies sie zur Tür. Höchststrafe. Hausverbot.

Es war das erste Hausverbot meines Lebens. Ich habe zuerst überlegt, ob ich später maskiert zurückkommen sollte, mit angeklebtem Schnauzbart und Skibrille. Oder vor der Bibliothekarin in die Knie gehen, um mit John Lennon zu bekennen: „Woman, I can hardly express my mixed emotions at my thoughtlessness…“ Stattdessen habe ich zur Feier des Tages die Strafe um 145 Euro erhöht und mir alle Mozartbriefe selbst gekauft. Und einen Liter Milch. Das war nämlich das Anliegen der Anruferin.

Dieser Text erschien zuerst am 10.11.2007 in der HAZ, ist urheberrechtlich geschützt und wird heute aus 5 Gründen online gestellt. 1. ist es auf den Tag genau 243 Jahre her, dass Mozarts Mama ihren ahnungsvollen Brief schrieb. 2. ist es ziemlich genau 2 Jahre her, dass die Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden ihre neuen Lesesäle eröffnete. Der Schauplatz meiner Geschichte ist Geschichte, nur die Stille ist geblieben. 3. sollen irgendwann sowieso alle passablen Kolumnen hier online stehen, und da ich 4. einfach nicht jede Woche Zeit für etwas Neues habe, das völlig honorarfrei entsteht, kann ich 5. bei der Gelegenheit auch auf den Kolumnenband “Der Wolkenkoffer” hinweisen, 2008 bei Zu Klampen erschienen und bislang erstaunlicherweise weder vergriffen noch verfilmt, in dem neben Mozart auch Dostojewski, Obelix und Frau Dr. Ottenbach auftauchen.