Hundert Jahre auf drei Beinen I

Mein Grotrian hat schon bessere Tage erlebt. Mein Grotrian! Das klingt, als begönne der Tag mit dem munteren Durchspielen der Revolutionsetüde oder einiger Goldbergvariationen. Von wegen. Was die Klavierkünste seines Besitzers betrifft (und jetzt werden auch die, die bei „Grotrian“ auf den Namen eines zottigen Neufundländers getippt haben, ahnen, dass es ein Instrument ist), wird dieser Flügel seit etwa fünfundzwanzig Jahren grotesk unterfordert, um nicht zu sagen beleidigt. Man müsste Klavier spielen können, denke ich jedes Mal, wenn ich da auf Ebenholz und Elfenbein herumstochere.

Wie kommt so ein Stümper dazu, sich einen Grotrian zu kaufen? Das möchte ich jetzt, da dieser Flügel hundert Jahre alt wird, näher erklären. Ich habe ihn weder gekauft noch geschenkt bekommen, eher so halb und halb, aber eigentlich ist er mir zugelaufen wie ein Neufundländer. Es war im späten 20. Jahrhundert, in den Tagen vor der Revolution. Da gab es in Hannover eine Kneipe namens „Grotte“, die innen so aussah, wie sie hieß, gilb vom Zigarettenrauch, der immer dort waberte. Irgendeiner erzählte von einem Klavier, das hatte irgendein anderer in einer WG zurückgelassen.

„Ein Klavier!“ Meine Freundin stieß mich an. „Wolltest du nicht gern mal ein Klavier haben?“ „Was ist denn das für ein Klavier?“, fragte ich den Typen. „Na so´n größeres. Schwarz, drei Beine. Riesenteil.“ Es stehe im Weg. „Was wollt ihr dafür haben?“ „Zahl den Transport.“ „Okay.“ Das Teil wurde an einem Dienstagmorgen vier Stockwerke hoch in meine Dachwohnung geschleppt, vorbei an der entsetzten Vermieterin, der ich erklärte, es handele sich um ein Instrument, das seines Alters wegen nur noch sehr leise Töne von sich geben könne. Das Gegenteil war der Fall. Die Hämmer waren hammerhart.

Alle liebten den Grotrian. Bei Feten (so nannte man das) fand sich immer irgendein richtiger Pianist, der zeigte, was in dem Riesenteil steckte, und in fetenfreien Stunden übte ich daran fürs Nebenfach Klavier, bis zu jener Examensprüfung, in der nicht nur ich dachte, man müsste Klavier spielen können. Dass man mich danach nicht in Ketten legte, sondern mit einer milden Note ins weitere Examen entließ, ist nur durch Mitleid zu erklären und dadurch, dass ich gegen Ende einer völlig verwüsteten Bachfuge, in der komplexen Engführung von BWV 876, auf einmal vier glasklare, fehlerfreie Takte spielte.

Pars pro toto, müssen sie gedacht haben, da schimmert doch was durch, geben wir dem armen Kerl eine Chance, vielleicht kann er wenigstens Bratsche spielen. Meine geigende Freundin, Zeugin des Klavierdesasters, hatte nie Peinlicheres erlebt, zog aber trotzdem mit mir und dem Grotrian zusammen. Eines Tages ging sie mit einem Pianisten auf Tournee in Südamerika. Und dort entschied sich auf wundersame Weise das weitere Schicksal des alten Grotrian. Es würde eine Kolumne sprengen. Und darum gibt es an dieser Stelle keine Pointe, sondern nur das Warnschild „Cliffhanger“. Nächste Woche mehr! Jetzt muss ich dem Alten erstmal die Tasten putzen.

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