Als ich in den Zug stieg, hatte ich schon ziemlich viel Geld in der Schweiz gelassen, unter anderem für ein Hotelzimmer ohne warmes Wasser, und war genervt. Die Schweizer schaffen es, sogar deutsche Dienstleistungen zu verteuern. Wer in Zürich ein ICE-Ticket 2. Klasse mit Bahncard 50 nach Hannover löst, zahlt derzeit 105 Euro statt 80, für die Differenz kriegt man in der Zürcher Oper locker zwei Glas Champagner und eine Erdnuss. Der Beamte am Schalter war sehr nett, kein Wunder bei dem Gehalt, das ich vermutete.
Während der Zug pünktlich dem Bahnhof entrollte, griff ich nach dem Umschlag in der Manteltasche, aber da war das Ticket nicht. Reisetasche? Ausräumen, gründlich. Papiere, Klamotten, kein Fahrschein. Darf nicht wahr sein. Nachlösen im Zug, in der Schweiz? Die würden glatt 130 Euro nehmen! Nicht aufregen. Nicht rechnen, was man dafür kriegt: Einmal Geblitztwerden mit einem Punkt, oder einen Staubmantel, preisreduziert, acht Glas Champagner mit Blick vom Opernbalkon, oder neue Schuhe für Frido und Paul…
Kurz vor Basel kam die Zugbegleiterin. „Das war mein Fahrschein“, sagte ich und hielt hoch, was mir geblieben war, die Quittung über104,55 Euro = 105 CHF. „Da steht ja alles drauf“, sagte sie bloß, „ich sag´ dazu nichts. Ab Basel kommen aber die deutschen Kollegen…“ Da stand keineswegs alles drauf. Uff. Der deutsche Kollege kam vor Freiburg. „Das hier war mein Fahrschein“, sagte ich wieder, erklärte den Verlust und erwähnte die Schweizer Kollegin. Er dachte nach. „Ich glaub Ihnen das ja… Ich werde in Frankfurt abgelöst. Bis dahin…“
Er lächelte und ging seines Weges. Was war das denn? Warum sagte er nicht, ich könnte den Fahrschein ja auch einem Komplizen im nächsten Waggon gegeben haben…? Nichts dergleichen. Mein Weltbild bekam Risse, so konnte das nicht weitergehen. Mindestens ab Frankfurt würde ich nachlösen müssen, und die nächste Zugbegleiterin sah mir ganz danach aus. Straffes Blond, sehr ernst und gewissenhaft, keine Diskussion. Schon gar nicht vor Zeugen, der Zug war jetzt voll. „Das hier ist der Rest meines Fahrscheins“, erklärte ich.
Ich erzählte vom Verlust, von der Schweizer Kollegin und dem deutschen Kollegen, und sie guckte sich den Schein nicht mal an. „Bis wohin fahren Sie?“ „Hannover.“ „Gute Reise.“ Entweder hielt eine milde Gottheit die Hand über mich, oder ich war an die nettesten Zugbegleiter der Welt geraten, was auf das gleiche hinausläuft, oder mich hatte meine Erfahrung getrogen, dass Menschen auf Ermessenspielräume gern mit Blockade reagieren. Man kann doch nicht einfach 700 Kilometer weit ohne gültigen Fahrschein durch Europa fahren!
Doch, man kann. Vielleicht lag es auch am neuen Hemd? Oder an meiner Mitreisenden, die beiläufig meine Ausführungen bestätigte, entspannt lächelte und eine gültige Fahrkarte besaß? Auch, vielleicht. Es müssen viele Faktoren zusammen kommen. „Alle fünfhundert Jahre gelingt es“, sagte Richard Wagner mal, ebenfalls Zürichreisender. Er meinte allerdings die ideale Ehe und machte es mit den Tickets umgekehrt: Er hatte immer welche, bezahlte sie aber nie. Und mit seiner Cosima, da bin ich sicher, wäre mein Trip nicht gut gegangen.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt