Raus aus dem Exil!

Komponistinnen sind in Deutschland längst keine Exoten mehr. Doch auf dem Weg zur echten Gleichstellung müssen sich auch die Frauen selbst noch einige harte Fragen stellen

Was sich in dieser Partitur für großes Orchester nachlesen läßt an differenzierter Klangvorstellung, an hochkomplizierter Orchestrierung oder subtiler Rhythmik, an sorgfältiger Gestaltungsarbeit“, das beeindruckte ihn sehr, den Kritiker Hans Josef Herbort, der 1980 für die ZEIT von den Donaueschinger Musiktagen berichtete. Dass mit dem Orchesterwerk „Sori“ einer Frau der internationale Durchbruch als Komponistin gelang, der Koreanerin Younghi Pagh-Paan, hob er nicht weiter hervor. Insofern war er seiner Zeit voraus – das Komponistin-Sein war vor mehr als 30 Jahren noch eine Seltenheit. Heute fallen einem dagegen auf Anhieb zwei Dutzend Zeitgenossinen ein, und zwar ohne das Quotenetikett „Woman composer“. Ist endlich Selbstverständlichkeit eingekehrt?

1981, im Jahr nach der Uraufführung von „Sori“, erschien das Buch „Komponistinnen aus 500 Jahren“ von Eva Weissweiler, damals von großer Wirkung, jetzt ein Klassiker der Genderliteratur. Die 30jährige Musikwissenschaftlerin sprach, was die Musik der Zeitgenossen anging, von einer „erfreulichen Tendenzwende“, immerhin fänden sich Komponistinnen längst auf den Programmen aller wichtigen Podien Neuer Musik. Heute wirkt das wie Zweckoptimismus. Von den zeitgenössischen Namen, die Weissweiler nannte, hat allenfalls noch Gloria Coates einen internationalen Klang. Pagh-Paan wurde gerade erst bekannt, von Sofia Gubaidulina wussten nur ihre Freunde, Olga Neuwirth war eine dreizehnjährige Trompetenspielerin.

Die Zeit war reif

Und Isabel Mundry studierte Komposition an der HDK Berlin. „Willst du nicht lieber Musikpädagogin werden?“, so hatte ihr ein Lehrer vorher noch ein „weibliches“ Fach nahegelegt, und ihr erster Professor war überzeugt, Frauen könnten „nicht mit Formen umgehen“. Aber, sagt Mundry, die als Professorin Komposition in Zürich und München lehrt, „die Zeit war reif, die Schwelle zum Studium war gesunken.“ So weit jedenfalls, dass man in einer Tonsetzerklasse auch mal eine Studentin fand. Halb und halb mischen sich die Geschlechter da auch heute noch nicht, „aber wenn ich die Begabten zähle, die Studenten, deren Musik mir in Erinnerung ist“, sagt Mundry, „ist das Verhältnis paritätisch.“

An der hannoverschen Hochschule unterrichten Rebecca Saunders und Oliver Schneller als Professoren eine Klasse, die tatsächlich je zur Hälfte aus Frauen und Männern besteht. „Da spüre ich nichts mehr an Gefälle“, sagt Susanne Rode-Breymann, Jahrgang 1958, Präsidentin der Hochschule und renommierte Genderforscherin, „aber dann geht´s los. Der Punkt, wo die Frauen exkludiert werden, rutscht in der Qualifikation immer weiter nach oben. Bei der Etablierung in den künstlerischen und wissenschaftlichen Institutionen kommt der Deckel.“ Auch außerhalb des Musikbetriebs wird „Karriere“ bei Männern immer noch als soziale Notwendigkeit, bei Frauen als „Selbstverwirklichung“ wahrgenommen. Und bis heute gibt es bundesweit nur vier Stellen für Professorinnen, die ausschließlich Komposition lehren: Younghi Pagh-Paan in Bremen, Violeta Dinescu in Oldenburg, Rebecca Saunders in Hannover, Isabel Mundry in München.

Andererseits haben Publikumslieblinge wie Unsuk Chin (Jahrgang 1961) und Lera Auerbach (1973) rund 90 Aufführungen im Jahr, und mindestens zwanzig weitere Komponistinnen sind zumindest im deutschsprachigen Raum so präsent, dass die Frage nach „weiblichem“ Komponieren längst der nach Individualitäten gewichen ist, geschlechterunabhängig. Eine Art Boom in den letzten dreißig Jahren will Genderforscherin Rode-Breymann auch gar nicht bestreiten. Einen Grund dafür sieht sie in der Ausbildungsgeschichte: Zuerst konnten Frauen sich als Komponistinnen nur privat qualifizieren wie Fanny Mendelssohn. Dann konnten die ersten an Konservatorien das Handwerk lernen. Phase drei: das Studium wird selbstverständlich, also wächst die Zahl der Komponistinnen.

Statistik und Realität

Von sieben auf dreizehn Prozent ist der weibliche Anteil gestiegen von den Komponisten der Jahrgänge 1930 bis 1960 zu denen der Jahrgänge 1960 bis 1990. Auf diesem Level waren die Schriftstellerinnen schon zu Zeiten der Weimarer Republik. Zudem sagt diese Statistik noch nichts über die Zahl der Aufführungen aus. „Ein paar Komponistinnen haben es geschafft“, meint Frank Harders-Wuthenow, Verlagsmann bei Boosey & Hawkes, „aber nur wenige kommen auf der internationalen Ebene in nachhaltige Wahrnehmung. Da oben ist die Luft sehr dünn.“ Die deutsche Situation verzerre das Bild noch positiv. Nirgends sei das „network“ so stark, die Dichte der Festivals so hoch. „Da aber mit den fetten Jahren der Kulturförderung auch die massive Förderung der neuen Musik zurückgeht, werden wir vermutlich bald weniger Frauen auf dem Podium sehen.“

Männliche Kuschelecken Susanne Rode-Breymann sieht das so: „Weil sich die ganze Kultur zunehmend legitimieren muss, fangen Verteilungskämpfe an, und die Männer entwickeln dabei subtile Strategien.“ Mitunter vielleicht sogar, ohne es selbst zu merken. Als die Donaueschinger Musiktage vor zwei Jahren das Thema „Großform“ hatten, wurde keine einzige Frau mit einem der sechs Aufträge betraut. „Meine Studenten kamen empört zurück“, sagt Isabel Mundry, die in manchen Institutionen „mittelmäßige, aber machtvolle Kuschelecken“ der Männer ausmacht. Veranstalter surfen derzeit gern auf der Modewelle der „coolen Jungs der Sampler-Generation“ (Mundry), die Videos, rechnergestützte Klangverarbeitung und Traditionsinstrumente miteinander verquicken. Andererseits: „Da, wo es wirklich professionell zugeht, etwa bei einem Dirigenten wie Daniel Barenboim, ist es völlig egal, ob eine Frau oder eine Mann komponiert.“

Kaum nötig scheint bei uns noch eine Polemik, wie sie 2012 die Amerikanerin Amy Beth Kirsten im Onlinemagazin „New Music Box“ veröffentlichte. „The ,Woman Composer´ is dead“, schrieb sie. Man habe keine Sonderbehandlung mehr nötig, schließlich würden Neue-Musik-Ensembles schon bis zu 22 Prozent ihrer Programme mit Musik von Frauen bestreiten, was gegenüber den null bis drei Prozent des späten 20. Jahrhundert einen enormen Anstieg bedeute. Dieser verdanke sich zwar zweifellos auch der Kategorie Woman Composer als Kampfbegriff, doch den solle man jetzt mal beerdigen. US-Kolleginnen widersprachen ihrer Diagnose vehement. In den Programmen der großen Orchester, in der Besetzung der Seminarräume sei kein Hauch von Gleichberechtigung zu erkennen.

Nicht nur daran wird deutlich, wie sehr man jenseits des Atlantik der hiesigen Praxis nachhinkt. Vor gut einem Jahr wurden in New York drei in Deutschland ansässige Komponistinnen im Miller Theatre mit Porträtkonzerten gewürdigt: Sofia Gubaidulina (Jahrgang 1931), Rebecca Saunders (Jahrgang 1967) und Olga Neuwirth (Jahrgang 1968). Alex Ross, Musikautor des “New Yorker”, schrieb erstaunt, so also könne es aussehen, wenn es „die Komponistin als bedrängte Minderheit“ nicht mehr gäbe, und hob hervor, wie überaus unterschiedlich Frauen komponieren. Man muss dazu wissen, dass an der Metropolitan Opera bis heute eine einzige Oper von einer Frau aufgeführt wurde, Ethel Smyths „Der Wald“. Das war im Jahre des Herrn 1903.

Bitte keine Sonderrolle

„Wichtig ist, dass wir aus dem Exil heraus sind“, sagt Susanne Rode-Breymann. „Sonderkonzerte und Sonder-CDs, sehr ambitioniert, aber schlecht gespielt – das will man nicht hören, das bringt die Sache nicht weiter. Wir brauchen nichts von Frauen für Frauen, sondern hohe Qualität.“ Auch darum war Gidon Kremers legendäre Einspielung des „Offertorium“ von Gubaidulina anno 1989 ein Katalysator der Normalität. „Enorm wichtig, dass das ein Mann spielte!“ Gegen zähneknirschenden Widerstand der Deutschen Grammophon hatte Weltstar Kremer die Aufnahme erpresst. Diese Musik schlug in ihrer Neuheit derartig ein, dass jede Diskussion über ihre „Weiblichkeit“ nur lächerlich gewesen wäre. Spätestens da wurde die Kategorie Woman Composer vom Schlag getroffen.

Und doch, meint Isabel Mundry, vermisse sie Stücke von Zeitgenossinnen, „in denen man hört, dass jemand hart dran war, wo die ganze Musik in Frage gestellt wird wie etwa bei Schönberg. Was ich kaum sehe, ist eine Musik, die sich autonomisiert von dem, was schon gutgeheißen ist.“ Immer noch seien Rollenmodelle wirksam, „die ewige Tochter“ oder deren freche Variante „junge Wilde“ à la „Ich weiß auch nicht, was da alles aus mir herausplatzt…“ „Zähes Tochtergehabe“ erlebt Mundry auch in Seminaren, „wo sich die Frauen an das dranhängen, was die Männer sagen, obwohl sie selbst kreativ unterwegs sind.“

Susanne Rode-Breymann findet ebenfalls, „die Frage, warum das da oben nicht weitergeht“, müssten sich auch Frauen selbst stellen. Zum einen sei bei denen der Realismus ausgeprägter, weniger als das männliche „Das kriegen wir schon hin.“ Manchen ist das Tönesetzen einfach zu riskant, denn davon allein können auch Komponisten mit Y-Chromosom kaum leben. Zum andern erwische es Akademikerinnen nach dem Studium kalt. „Sie dachten, sie seien gleichgestellt, sie haben keine Strategien, Widerstand zu leisten, und nur einige lassen sich nicht entmutigen. Aber: Wenn wir nicht gleich viele Komponistinnen produzieren, ist das so schlimm? Es ist doch eine genieästhetische Vorstellung, dass der Komponist die wichtigste Position in der Kultur wäre.“

Und diese gängige Vorstellung täuscht darüber hinweg, dass dem breiten Publikum im gelobten Musikland seine tonsetzenden Zeitgenossen, egal welchen Geschlechts, weitaus gleichgültiger sind als die großen Toten. In einer Bestandsaufnahme für das Musikinformationszentrum des Deutschen Musikrats liest man den Satz: „Die zeitgenössische Musik in Deutschland ist keine pure Nischenkunst mehr.“ Diese scheue Einschätzung ist dort tatsächlich als frohe Botschaft gemeint. Auf der Website von Younghi Pagh-Paan hingegen, die sich, 1945 geboren, aus der patriarchalischen Kultur Koreas, aus einer Provinzfamilie zu einer international maßgeblichen Komponistin befreite, liest man im Kalender: „Für 2015 sind noch keine Aufführungen anzukündigen.“

Dieser Text erschien im März 2015 in “128″, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, 2015 Nr. 1, zum Themenschwerpunkt “Frauen in der Klassik”, und ist urheberrechtlich geschützt.