Traumgage für einen Chaosbratscher

Wenn ich von meiner Viola träume, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass ich sie zu lange nicht angefasst habe. Aber Träume sind selten Wunscherfüller. Das Beste war noch, dass ich kein Lampenfieber hatte, obwohl ein Termin bevorstand, bei dem ich real wahrscheinlich genug Adrenalin für ein ganzes Oktett freisetzen würde. Ich sollte mich mit meiner Barockbratsche vor ein Orchester stellen und im Rahmen einer live übertragenen Uraufführung in extrem hoher Lage auf der A-Saite spielen, einen Halbton tiefer gestimmt als das völlig unbarocke, ausgewachsene, brucknertaugliche Orchester.

Ich hatte die Noten nur flüchtig durchgesehen und war wahnsinnigerweise der Ansicht, kurzes Einspielen vor dem Event sei genug. Eine Probe gab es eh nicht in dem gewaltigen Funkhaus, das sich über einen halben Kilometer lang mit Säulenreihen und Dutzenden von Eingängen am hannoverschen Maschsee entlangzog, dort, wo in Wahrheit einer der elegantesten Sendesäle der 1950er steht. Ich wühlte mich, etwa 90 Minuten vor Konzertbeginn, ins Labyrinth hinein, traf eine Reihe weiterer ebenfalls beteiligter Barockmusiker und klappte meinen Kasten auf. Darin befand sich keine Bratsche. Sondern eine Geige.

„Das ist doch meine!“, rief eine Musikerin und schnappte sich das Instrument, mit dem ich eh nichts anfangen konnte. Ich musste also noch mal nach Hause, was im Traum zum Glück nicht 75 Kilometer, sondern acht U-Bahnstationen weit entfernt war. Der Fahrkartenautomat war defekt und spuckte anstelle eines Tickets eine unglaubliche Menge von Zwei-Euro-Münzen aus, mit denen ich mir die Taschen füllte, für alle Fälle, es war ja ungewiß, ob es unter diesen Umständen zur Auszahlung einer Gage kommen würde. Etwa eine Viertelstunde vor Konzertbeginn war ich wieder da, das Publikum strömte bereits.

Verdammt, ich muss mich einspielen, dachte ich, und den Frack anlegen! Wo war bloß das Künstlerzimmer, in dem er hing? Ich erreichte einen fensterlosen Saal, pastellgrün und weiß gestrichen wie, dachte ich, das Künstlerzimmer der Wigmore Hall, aber ganz leer bis auf einen mir befreundeten Cellisten aus Holland, der im Frack auf allen vieren an den Wänden entlanghuschte wie eine Maus auf der Suche nach dem rettenden Mauseloch. War er durchgeknallt? Er hob den Kopf und grinste. „Puh, dieses Lampenfieber!“, sagte er. Er nahm die Sache überhaupt nicht ernst, das entspannte mich. Na dann!

Ob ich den Frack noch fand, ob die Uraufführung überhaupt stattfand, weiß ich nicht. Das letzte, was ich hörte, war das Stimmen des großen Orchesters, dann wachte ich auf und war irritiert, aber guter Laune. Endlich mal durchgeschlafen! Nie und nimmer würde ich mich auf so einen Wahnsinn einlassen. Allerdings dachte ich noch darüber nach, wieviele Zwei-Euro-Münzen man sich wohl in die Taschen stopfen kann. Dann ging ich zum Bratschenkasten. Das Instrument träumte still vor sich hin. Werde wohl mal wieder etwas üben…

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