“Auf der Bühne ist man ja auch im Wald, ein bisschen”

Sie ist eine der berühmtesten deutschen Schauspielerinnen, jetzt verwandelt sie sich für Purcells “King Arthur” in Merlin. Eine Probenpause mit Corinna Harfouch in Zürich

Der Regisseur hat Grippe, er kommt heute nicht. Trotzdem irrlichtert es sanft auf der Probebühne, der Korrepetitor klimpert am Cembalo den „Schwan“ aus dem „Karneval der Tiere“, Schauspielerin Annika Meier ulkt: „Lieber morgens Spinett als abends Spinat“, Hubert Wild testet schrille Sangestöne, rückt sich den Schafspelz zurecht, nach und nach erobern vier Akteure den Raum. Es ist diese magische, irreale Phase zwischen Geplänkel und Probe, als eine zierliche Frau an den Tischen der Assistenten und Dramaturgen entlangschlendert, grinst und mit herber Stimme ruft: „Geht es jetzt mal los mit diesem Teil?“ Es geht los.

Während auf der Fläche ein „Ritual“ choreographische Konturen gewinnt, ohne Worte, übt sie am Rand einen Dialog mit der Sängerin Mélissa Petit. Leise, ohne Darstellung, nur die Worte, sehr frei nach John Drydens Text zu Henry Purcells „King Arthur“. Dann wendet sie sich an mich: „Geh´n wir einen Kaffee trinken?“ Klar. Ich wollte schon immer mal Kaffee mit Corinna Harfouch trinken. Genauer gesagt, ich hätte es mir nicht träumen lassen. Je präsenter einem ein Gesicht, eine Gestalt ist, desto entrückter ja auch. Und selbst wer sich eher selten ins Sprechtheater verirrt, kennt dieses Gesicht aus dem Kino.

fn074700_pic_12_0

Sie ist kein bisschen entrückt. Sie ist derartig geerdet, dass unser Gespräch gewissermaßen im Wald enden wird, auch wenn wir die ganze Zeit im Büchercafé nahe der Probebühne an der Züricher Hardturmstraße sitzen. Am Abend vorher habe ich mir „Der Untergang“ von 2004 angesehen, bis zu dem Moment jedenfalls, als Magda Goebbels im Führerbunker ihren Kindern das Gift reicht. „Wer fängt an?“ fragt Frau Goebbels lächelnd. „Heidi, du bist doch immer die Tapferste…“ Da war es nicht mehr auszuhalten. Corinna Harfouch durchdringt diese Frau so kapillarenfein, dass man in deren Realität gerät.

Das lässt man nicht so leicht hinter sich. Da ist es gut, sie jetzt normal zu treffen. Sehr offen, sehr empathisch. Wir sprechen zuerst gar nicht über Theater, sondern über Lottogewinne. Sie erzählt von Verwandten, für die sich ein Riesengewinn geradezu als Fluch erwies. „Die meisten Menschen haben ja keine Vision“, meint sie, „außer so blöde Träume: Ich jette nach sonstwo und kaufe mir einen Ferrari.“ „Die Superreichen“, sage ich, „haben auch nicht besonders viele Visionen…“ „Ich habe neulich eine Reportage über Wolfgang Joop gesehen. Da sind diese Mädels, die 4000-Euro-Kleider kaufen.“ Sie schweigt kurz und sieht sie im Geiste an: „Es ist krass. Gruselig, absolut!“

Natürlich könnte sie auch so ein „Mädel“ spielen, eine dieser Luxusfrauen. „Ich kann Tiere spielen, Gräser, Blätter, Männer, Frauen, selbst Babys“, hat Corinna Harfouch in einem Interview vor zwei Jahren gesagt. Sie war Müllers Hamlet und Zuckmayers General Harras, sie war Vera Brühne und, ganz früh, Lady Macbeth, sie stand als Ibsens „Frau vom Meer“ anno 1993 erstmals mit Herbert Fritsch auf der Bühne, in der Regie von Frank Castorf, als „lichter, schöner Fremdling“ neben Fritsch, dem „zu allem entschlossenen Exhibitionisten“, wie der Theaterkritiker Benjamin Henrichs damals in der ZEIT schrieb.

Später inszenierte Fritsch selbst. „Vor drei Jahren haben wir hier in Zürich die „Physiker“ gemacht, meine erste Arbeit mit ihm als Regisseur“, sagt sie, „ich war geradezu beseelt. Ich liebe diese expressive sportliche Art zu spielen. Kindlich, aber nicht kindisch. Ich neige ja ein bisschen zum Grübeln und befreie mich im Spiel, aber meistens handelt es sich um diese psychologischen Rollen. Fritsch hat eine ganz andere Richtung.“ Wir sitzen im sonnigen Wintergarten neben dem Café, ein Paradies für Raucher, unterm Glasdach tschilpen Vögel. „Man könnte sich fast wundern“, wage ich zu sagen, „dass eine kontrollierte Schauspielerin gerade die Unberechenbarkeit von Fritsch so mag.“

„Ich weiß ja nicht, wovon Sie ausgehen“, meint sie da skeptisch. „Kontrollierter Mensch… das wäre eine sehr segmenthafte Wahrnehmung!“ Es scheint mir unangemessen, ausgerechnet jetzt den „Untergang“ zu erwähnen, jetzt, da sie an der Rolle des Zauberers Merlin in Purcells Semi-Opera „King Arthur“ arbeitet. Magda Goebbels, das passt gar nicht. Ich murmele etwas von „Kino“, und sie meint, das sei eine vollkommen andere Arbeitsart. Okay, gehen wir von etwas anderem aus, nämlich dem Anfang in Großenhain, der sächsischen Kleinstadt, in der sie aufwuchs, 1954 im thüringischen Suhl geborene Tochter einer Lehrerfamilie.

„Eine Kleinstadt ist mörderisch. Die einen bleiben da und die andern wollen weg, zu denen hab ich natürlich gehört. Dieses ausgesprochen unangenehme Gefühl im Zusammenleben, diese Enge, dieses Beobachtetwerden, das Gemeine, was da ist, das Unfreie, die gegenseitige Kontrolle… Wenn man es geschafft hat, das zu verlassen, dann reicht der Negativschub eine ganze Weile. Danach nutzt man andre Kräfte…“ Wie aber führte dieser Schub, nach einer Ausbildung zur Krankenschwester und dann, in Dresden, als Textilingenieurin, sie zum Theater, an die Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch?

Es geht auf eine frühe Erfahrung im Kindertheater zurück. „Ich hab da gemerkt, das ist mein Raum, meine Freiheit, da bin ich auch gut, oder nicht mal gut – da bin ich zu Hause, auf der Bühne! Das ist bis heute wie eine Sucht. Ein begrenzter Raum, der ist gefährlich, wenn man so will, aber nicht so gefährlich wie der Rest ringsum. Man ist ganz aufgehoben, man kann komplett loslassen, in Extreme gehen, Dinge erleben, die man in diesem anderen, uferlosen Leben nicht erlebt.“ Und in diesem Raum sei es „befreiend, wie der Fritsch die Sprache aus ihrer Konvention löst, weil er sehr unpsychologisch da heran geht. Sprache wird ja sonst immer wieder herabgebrochen auf Informationen über Menschen.“

Weil sie „Simpelhaftigkeit“ nicht mag, liebt sie den Teilzeitzüricher James Joyce. Mehrfach ist sie mit der Tram 6 hinauf zum Friedhof Fluntern gefahren, wo an Joyces Grab das coolste Raucherdenkmal der Welt steht. „Ich finde diesen Friedhof sowas von schön! Diese Vielfältigkeit. Was da für Leute leben, nein, wohnen, also…“, sie lacht, „begraben sind!“ 2012 erschien das gewaltige Hörbuchprojekt, in dem Klaus Buhlert den „Ulysses“ auf viele Stimmen, auch die von Corinna Harfouch, verteilte, „es ist ein Raum geschaffen worden, wo einem dieser Text fantastisch klar gemacht wird.“ Wenn sie selbst spielt, vorträgt, inszeniert, versucht sie, um den Text „den Raum rund zu machen.“

„Ich lese viel, viel, viel“, sagt Corinna Harfouch und erzählt von einem Buch, das sie begeistert, „Das verborgene Leben des Waldes“ von David Haskell. „Ein Sachbuch, aber dieser Mann hat die Fähigkeit zu schreiben wie ein großer Schriftsteller. Ein Biologe, er hat sich ein Waldstück in Tennessee ausgesucht, einen Quadratmeter groß, ein Mandala nennt er das, was er ein ganzes Jahr lang betrachtet.“ Sie erzählt vom Sehvermögen der Meisen, das viel größer als das menschliche ist, so ausführlich, als habe sie sich jedes Wort eingeprägt. „Wir haben nur eine begrenzte Fähigkeit, die Welt zu sehen! Für diese Vögel hat sie ganz andere Farben als für uns. Es begeistert mich und macht mich demütig.“

Der Wald ist ihr sowieso nahe, in ihrem Haus auf dem Land bei Berlin. Im Wald erlebe sie mitunter mehr als auf Reisen. „Aber da haben Sie kein Publikum!“  „Auf der Bühne ist man ja auch wieder im Wald, so ein bisschen“, meint sie. „Wir können ja mal zurückgehen und gucken, was da los ist.“ Wie sieht sie denn als Merlin aus? „Ich hab einen langen weißen Bart und lange graue Haare, ein großes Glitzerkleid und Haare auf den Händen. Hoffentlich unheimlich!“ Auf dem Smartphone zeigt sie mir den Trailer zu „Der Auftrag“ von Heiner Müller in Hannover, wo sie auch mitspielt. „Wenn Sie da schon wohnen!“, sagt Corinna Harfouch und lacht wieder. „Nicht immer nur in die Oper gehen!“

Dieser Text erschien – mit anderer Überschrift – im “MAG” Nr 37 der Oper Zürich im Februar 2016 und ist urheberrechtlich geschützt. Bildquelle: W-Film, DIF, © W-Film, Hagen Keller “Puppe” (2010-12)