Musikalische Migranten

Mal geht es um die Karriere, mal ums nackte Leben, mal waltet der Zufall: Seit mehr als 500 Jahren ist Migration ein Leitmotiv in der Musik

Gleich zwei Agenten hatte der Herzog aus Ferrara losgeschickt, quer durch Europa. Ercole d´Este brauchte einen Kapellmeister, er wollte den Besten. Der verlangte 200 Dukaten, ein Rekord. Er bekam sie, obwohl er „nur komponiert, wenn er möchte, nicht, wenn man ihn darum bittet.“ So zog 1503 der Burgunder Josquin des Prez an den Hof von Ferrara, ein Genie des mehrstimmigen Gesangs.Da hatte er ohnehin schon tausende von Kilometern zurückgelegt in seinem Leben, der bedeutendste der frühen musikalischen Migranten. Josquin, um 1450 geboren, war eines der vielen burgundischen Talente, für die der heimische Markt zu eng wurde, während das reiche, ehrgeizige Italien lockte.Mitte Dreißig war er nach Mailand aufgebrochen, er hatte in der päpstlichen Kapelle gesungen und für sie komponiert, dann wieder war er Louis XII. nach Frankreich gefolgt.

Obwohl Umzüge über 1000 Kilometer hinweg auch für Wohlhabende eine Strapaze waren, bilden sie eine Basis für die europäische Musik der letzten 500 Jahre. Josquins Reise nach Ferrara war nur einer von vielen Künstlertransfers jener Jahre. Wirtschaftsrouten und Kunstideen wuchsen nach dem Mittelalter zusammen wie Synapsen im Hirn eines Neugeborenen. Die Durchsetzung und Entfaltung der Mehrstimmigkeit in Europa – ein weltweit singuläres Phänomen – ist auch eine Reisegeschichte. Und Josquin, Sänger und Komponist, ist als Wegbereiter der musikalischen Neuzeit eine Art Schutzpatron all der Musiker, die es aus ihrer Heimat mit produktiven Folgen woanders hin verschlug.

Die Bambusflöte und die Platten der US-Soldaten

Wenn heute ein Künstler aus London oder Tel Aviv seinen Wohnsitz nach Berlin verlegt, ist das nur noch eine biografische Fußnote. Als aber die junge Komponistin Younghi Pagh-Paan 1974 aus Südkorea nach Deutschland kam, hatte sie 9000 Kilometer zurückgelegt und musste in ihrer Kunst Welten zusammenbringen, die einander ferner waren als das Burgund und das Norditalien von 1500. Was nicht daran lag, dass sie noch nie „Klassik“ gehört hätte. Sie spielte selbst Klavier.

Aufgewachsen war sie zunächst mit Liedern, die ihr Vater in der Provinzstadt Cheongju ihr auf der Bambusflöte vorspielte, und mit den Klängen der Perkussion, zu denen auf dem Markt am Fluss Spielleute sangen. Dann kam das Radio dazu: „Die US-Soldaten hatten ihre Platten dem Rundfunk geliehen, fast nur Romantik.“ Sie lernte Noten schreiben und notierte sich Melodien aus dem Radio auf selbstgemachtem Notenpapier, sie lernte Klavier spielen – es gab eines in der Schule. Mit 20 Jahren hörte Younghi in Seoul erstmals ein Orchester live und begann, Musik zu studieren, auch Komposition, im Stil der klassischen Moderne. Dann kam das Stipendium für Deutschland…

Rosenmüller flieht nach Venedig und blüht auf

Bei Johann Rosenmüller war es im Jahre 1655 kein Stipendium, das ihn rund 1000 Kilometer weit aus seiner Heimat katapultierte. Der 36jährige war mitten in einer geradlinigen Karriere und kurz davor, das Amt des Leipziger Thomsaskantors anzutreten, da wurde er „grober Excesse bezüchtiget“ und wie einige Thomasschüler inhaftiert. Dass ihm die Flucht über Hamburg nach Venedig gelang, schon längst eine Insel der Libertinage, rettete ihm das Leben. Denn die seit 1532 unverändert geltende „Constitutio“, erstes allgemeines deutsches Strafgesetzbuch, ahndete die Homosexualität mit der Todesstrafe. In Venedig blühte Rosenmüller, schon vorher renommiert, musikalisch auf.

Seine chromatisch glühende Instrumentalmusik, seine großräumig angelegten Vokalwerke für venezianische Vespern haben, wie Peter Wollny schreibt, „die neueste italienische Kompositionsmanier in einmaliger Weise verknüpft mit der eher kontrapunktisch ausgerichteten deutschen Satztechnik“. Dass der gelernte Protestant nun katholische Texte vertonte, störte seine deutschen Bewunderer ebenso wenig wie der Leipziger Skandal: Der Weimarer Hof schickte einen Gesandten, um Musik von Rosenmüller erwerben, der Wolfenbütteler Herzog Anton Ulrich lockte den Komponisten wieder nach Norden, wo dessen Musik, so Wollny, inzwischen „geradezu stilbildende Wirkung“ entfaltet hatte.

Ein wahrhaft atemberaubendes Niveau

Als Younghi Pagh-Paan in Freiburg ankam, fand sie sich nicht so einfach zurecht wie Rosenmüller in Venedig. „Ich war ja innerlich stolz und fand mich klug, hatte bis zum Master studiert und mehrere Stücke geschrieben – aber hier war ich einfach nichts.“ Hier traf die 28jährige Koreanerin auf 20jährige Deutsche, „die konnten alle vier bis fünf Sprachen. Sie lasen die französische Musik des Mittelalters, die italienischen Motetten, und Klavier spielten sie auch sehr gut.“ Der Schock angesichts dieses Niveaus raubte ihr im wahrsten Sinne den Atem – sie bekam oft keine Luft. Und sie befreite sich, indem sie ein Instrument atmen ließ, die Querflöte in ihrem traumhaften Solostück „Dreisam – Nore“.

Musikalisch dicht vernetzt war das Europa, in dem dann Pagh-Paan ihren Weg machte, schon seit Josquins Zeiten. Aber selbst im späten 18. Jahrhundert konnte man sich dort noch ins Abseits manövrieren wie ein Zeitgenosse der Wiener Klassiker, der gerade darum seinen unverwechselbaren Stil ausprägte. Luigi Boccherini, 1743 im italienischen Lucca in eine Musikerfamilie geboren, hätte gleich zweimal steil durchstarten können. Schon der Fünfzehnjährige fiel als Solocellist in Wien auf und spielte in Maria Theresias Hofkapelle, dann aber kehrte er für ein paar Jahre nach Norditalien zurück und versuchte es erst 1767 wieder im Ausland: In Paris war er begehrter Gast privater Salons.

Aber der spanische Botschafter lockte Boccherini nach Madrid, und von dort nahm ihn sein neuer Dienstherr, Infant Don Luis, mit auf das Provinzschloss Las Arenas. „Niemand bey uns weiß mir zu sagen: Wo dieser Orth Arenas liegt“, schrieb Haydn ratlos dem Verleger Artaria, der auch Quartette von Boccherini druckte. Der wurde im Abseits, stattlich bezahlt und enorm produktiv, erst recht zum eigentümlichen Tonsetzer mit prägnanten Kurzthemen und blockhafter Reihung von Taktteilen, in der Spannungen der Harmonik eher als Farben denn als Teil eines Prozesses erscheinen. In den an „minimal music“ grenzenden Stücken klingen auch die spanische Folklore und ihre arabischen Anteile mit.

Dass Younghi Pagh Paan ihre Heimat mitgebracht hatte, hört man in im zweiten wichtigen Stück, das in Freiburg entstand, „Man Nam“ für Klarinette und Streichtrio. „Ganz am Ende kommt der koreanische Fluss“, sagt sie, aber auch schon am Beginn, wo Töne und Linien sanft auftauchen, ist ein Fluss, überall in ihrer Musik, wo Schichten in unterschiedlichen tempi fließen, und in ihrem Kopf: „Ein Fluss sind meine Gedanken, ein anderer ist die Musik, die ich mir zurückrufe. Wenn ich mir die Klänge der koreanischen Schlagzeuginstrumente vorstelle, rieche ich den Markt am Fluss, Hühner, Kühe, Schweine, Gewürze, Essen. Da gab es auch Spielleute, meistens ein Schlagzeuger und ein Sänger.“

1848: Die verarmten Bachs erreichen Wisconsin

Immer wieder gerät Alltagsmusik in die Sphären der Kunst, vom Barock bis in die Gegenwart. Das hat eine familienbiographische Parallele bei den Bachs, die um 1600 als Stadtpfeifer begannen und dann, rund um Johann Sebastian, vor und nach ihm, rund zehn Komponisten von Rang hervorbrachten. Aber just diese Familie erlebt im 19. Jahrhundert ein Auswandererschicksal, an dessen Ende gewissermaßen wieder Spielleute stehen. Es waren Andislebener Nachfahren des Erfurter Stadtmusikers Johann Christoph, geboren im selben Jahr 1685 wie Johann Sebastian und sich mit diesem den Urgroßvater teilend, die von den Mißernten der Jahre 1846 und 1847 schwer getroffen wurden.

Ohnehin in ärmlichen Verhältnissen lebend, als Bauer und Musikant tätig, schiffte sich Johann Karl Friedrich Bach mit schwangerer Frau und fünf Kindern auf der Brigg „Saphiras“ ein und erreichte Ende August 1848 Port of Buffalo, von da ging es weiter bis Wisconsin. Mit dabei: der zwölfjährige August Reinhold Bach, der Farmer, Instrumentenbauer und Musiker wurde und sich 1887 mit sieben Söhnen als „The Bach Band“ fotografieren ließ, mit Geigen, Blasinstrumenten, Trommel und einem stolzen Papa im Gehrock am Kontrabass. Die Söhne Reinhold jr. und August eröffneten später in Rochester, Minnesota, ein überaus erfolgreiches Musikaliengeschäft: „Bach Bros.“

Ein ZDF-Bericht verändert die Partitur

„Sori“ heißt das Orchesterwerk, das Younghi Pagh-Paan 1980 in Donaueschingen ihren internationalen Durchbruch bescherte. Komplexe Rhythmen südkoreanischer Bauernmusik werden mit den Finessen westlicher Avantgarde entfaltet. Doch die funkelnde Partitur wird unterbrochen von einer Passage, in der der Klang brutal explodiert, mit Trillerpfeifen und Fetzen von Marschmusik. Während der Arbeit am Stück hatte die Komponistin einen ZDF-Bericht über das Massaker von Kwangju gesehen, wo die Militärdiktatur die koreanische Demokratiebewegung niederschlug und 2000 Menschen starben. „Ich habe meine Ideen geändert, während ich schon komponierte“, sagt sie dazu.

Politische Gegenwart spiegelt sich in vielen Werken des 20. Jahrhunderts, aber auch in vielen Auswandererbiographien, keineswegs erst seit Beginn des „Dritten Reichs“. Sergej Rachmaninow, 1873 geboren, war aus dem Zarenreich zuerst als Gaststar in die USA gekommen, 1910, um sein zweites Klavierkonzert zu spielen und mit Gustav Mahler in New York sein neues drittes aufzuführen. Als Rachmaninow im April 1917 das Gut Iwanowka besuchte, auf dem er bis dahin alle seine Werke geschrieben hatte, 600 Kilometer südöstlich von Moskau, war es dort schon zu vorrevolutionären Plünderungen gekommen. Er verließ mit seiner Frau und den zwei Töchtern Rußland für immer.

1918 kam die Familie in New York an, und damit begann die auch vom Komponisten selbst betriebene Stilisierung zum „Russen in Amerika“, der in New York mit russischen Dienern, russischen Gästen und russischen Gepflogenheiten lebte. Doch im ersten größeren Werk, das in den USA entstand, dem 1927 uraufgeführten 4. Klavierkonzert, schien er nicht mehr der Alte zu sein. Man tadelte Eklektizismus und Sinnleere. Dabei lässt sich das zersplitternde Werk auch als Abschied vom Konzert in Form eines Konzerts hören, vollendet in der überlegenen Ironie der Paganini-Variationen. Sie entstanden 1934 in Rachmaninows Bauhausvilla in der Schweiz.

Das Image des Exotischen

Youngi Pagh-Paans Weg nach dem Erfolg von „Sori“ führte die Koreanerin 1994 nach Bremen – als erste Frau, die im deutschsprachigen Raum eine Kompositionsprofessur bekam. Doch bei aller Anerkennung gehörte „das Koreanische“ so zum Image, dass ein Kritiker noch bei der Uraufführung ihrer Kammeroper „Mondschatten“, 2006 in Stuttgart, rügte, sie verstecke ihre „koreanischen Wurzeln“. Man erwartete exotisch gefärbte „Weltmusik“ von einer Frau, die anderes im Sinn hatte, deren allererster Ausflug in Deutschland einem Meister gegolten hatte, zu dessen Zunft sie gehören wollte: Sie fuhr zum Bonner Beethovenhaus und schaute sich Ludwigs Handschrift an.

Da zeigt sich sich Musik als ein Zuhause, das nicht an Orte gebunden ist, wenn auch an Material und Musiker. Niemand hat das eindrucksvoller geschildert als der 1912 geborene Dirigent Kurt Sanderling. 1935 war er, der Jude, aus Berlin nach Moskau emigriert, er hatte auch schon die Leningrader Philharmoniker dirigiert, und als 1941 die Sowjetunion von den Deutschen überfallen wurde, floh er nach Osten. Die komplette Leningrader Kulturszene war nach Nowosibirsk umgetopft worden, da sah er eine Chance. Nach einer fünfwöchigen, lebensgefährlichen Reise hatte er die sibirische Stadt erreicht und machte sich auf den Weg zum Probensaal der Leningrader Musiker.

Noch mit 80 Jahren erinnerte sich Sanderling in einem Interview genauestens, „wie ich die Tür aufmachte und Mrawinsky probte die Jupiter-Sinfonie. Mir ist in dem Moment fast das Herz stehengeblieben – dass es so etwas überhaupt noch gab, eine Jupiter-Sinfonie, nun gut, das wusste ich, dass es sie gab, aber ein Orchester, das sie spielte und einen Dirigenten, der sie probierte, und einen Saal, in dem das stattfand – und das nach drei Wochen im Viehwagen von Moskau nach Alma-Ata und nach zwei Wochen auf dem Marmorboden des Bahnhofes, also wirklich den Tod schon vor Augen. Eine solche Helligkeit, die ich damals sah, hätte ich mir überhaupt nie vorstellen können.“

Bis 1960 blieb Kurt Sanderling den Leningradern treu, aber dann zog es ihn doch wieder nach Berlin, die Stadt, aus der er geflohen war. Josquin, der in Italien gefragte Sänger und Komponist, beschloß seine Tage unfern seines Geburtsortes. Johann Rosenmüller zog 63jährig von Venedig zurück in den Norden. August Reinhold Bach, als Junge von Thüringen nach Wisconsin geraten, interessierte sich so sehr für seine Vorfahren, dass er sich im Mai 1914, mit 78 Jahren, nach Deutschland einschiffte, um ihren Spuren nachzugehen. Er starb, als ein norwegischer Frachter die „Empress of Ireland“ rammte und das Schiff in fünfzehn Minuten versank. Heimweh kann auch gefährlich sein.

Das Eigene und das Fremde

Youngi Pagh-Paan, jetzt 70 Jahre alt und hoch produktiv, leidet nicht unter diesem Phänomen. „Ich brauche nicht mehr so viele Schlagzeuger, diese Heimatklänge, dass es in mir rumpelt, um die Heimat zu bewahren“, sagt sie lachend. „Das Problem mit dem Eigenen und dem Fremden habe ich in mir gelöst. Wenn ich jetzt in Korea bin, fühlt sich meine Heimat fremd an. So viele hohe Gebäude wie in ganz Europa nicht! Deutschland ist immer noch mein fremdes Land, aber in Bremen bin ich heimisch. Es sind die Menschen, die dieses Gefühl machen.“ Sie schreibt nun ein Streichquartett für die Ardittis, nach einem Text von Simone Weil. Es heißt „Horizont auf hoher See“.

Dieser Text erschien in “128″, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, in der 1. Ausgabe 2016 (März, S. 32-38) und ist urheberrechtlich geschützt.