„Sein Blut komme über uns“

Eine Ausstellung in Eisenach und ein Musikologe aus Kanada untersuchen, welche Spuren Luthers Antisemitismus bei J.S. Bach hinterließ

Klein und säuberlich schrieb er die Zahl „1700“ unter eine Zeile seiner Bibel, der Thomaskantor. Hat sich Johann Sebastian Bach damit als Antisemit geoutet? Seine Korrektur gilt einem Absatz über „Exil und Elend“ als göttliche Strafe, die „biß auff diese Stunde die überbliebene Juden nach ihrer endlichen Zerstörung und Zerstreuung erfahren müssen über 1600 Jahr“. So steht es in der 1681 gedruckten Bibel, die Bach als 48jähriger kaufte, las und mit Anmerkungen versah. Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, auf die der Passus sich bezieht, geschah 70 n. Chr. Bach war mit der Korrektur von „1600“ zu „1700“ also recht großzügig, die Bestrafung war ihm offenbar wichtig.

Der Ausschnitt gehört zu den Exponaten einer Ausstellung mit dem Titel „Bach, Luther – und die Juden“ im Bachhaus Eisenach. Sie befasst sich (auch) mit der religiösen Überzeugung des Thomaskantors und natürlich mit jenen Passagen seiner Passionen, in denen es um die „Jüden“ oder das „Volk“ geht, das da ruft: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Die heftige Diskussion darüber, ob J.S. Bach ein „Gestalter lutherischer Judenpolemik“ war, währt schon rund dreißig Jahre und brachte sogar eine Neubetextung der Johannespassion hervor. Jetzt, vor dem Reformationsjubiläum, ist die Debatte offenbar reif für ein größeres Publikum, zumal unabhängig von der Eisenacher Schau auch das Buch „Bach & God“ von Michael Marissen erschienen ist.

Der kanadische Musikwissenschaftler, bekennender Agnostiker, geht darin den religiösen Inhalten von Bachs Musik und in mehreren Kapiteln dem „Anti-Judaism“ nach. Wer nun aber erwartet, dass Marissen in transatlantischer Unbefangenheit die Passionen als Pamphlete entlarvt, während Eisenach „seinen“ Bach in Schutz nimmt, erlebt eher das Gegenteil. „Es ist ein ganz antiquiertes Luthertum, das da zu uns spricht“, meint Jörg Hansen, Direktor des Hauses und Kurator der Ausstellung. „Die verstockt im Unglauben verharrenden Juden finden hier ihre musikalische Entsprechung.“ Tatsächlich explodiert der Volkszorn in drängenden Chören beider Passionen immer wieder in derselben musikalischen Gestalt. Und Bachs Bibliothek bietet weitere Indizien.

Fest steht, dass der Komponist 81 theologische Bücher besaß (eine Luther-Ausgabe ersteigerte er sogar für ein gutes Zehntel seines Kantorengehalts), darunter auch Johannes Müllers 1707 erschienenen „Bericht / von des Jüdischen Volcks Unglauben / Blindheit und Verstockung“. Das ist eine kaum gemäßigte Fortschreibung von Martin Luthers brutalem Pamphlet „Von den Jüden und iren Lügen“. Auf dieses wiederum berief sich anno 1938 der Eisenacher Landesbischof Martin Sasse, „deutscher Christ“, als er seine Hetzschrift erscheinen ließ: „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ In Eisenach kann man darin blättern und erfährt auch, dass Sasse jenes martialische Bach-Denkmal in Auftrag gab, das einen bis heute in Johann Sebastians Taufkirche frösteln lässt.

Just die einstige Vereinnahmung als „Deutschester der Deutschen“ macht den Umgang mit Bachs Luthertum so heikel. Erblickt, wer darin und gar in der Musik antijüdische Töne entdeckt, etwa dasselbe wie die Nazis? Muss man sich fragen wie vor zwei Jahren der Theologe Johann Michael Schmidt: „Wie kann ich die Matthäuspassion mit jüdischen Freunden zusammen hören?“ Nein, das muss man nicht, wenn es nach Michael Marissen geht. Er hat in Bachs Bibliothek auch die „Biblische Erklärung“ von Johannes Olearius aus dem Jahr 1681 gefunden. Die Selbstverfluchung des Volks (das erst in Luthers Übersetzung zum ausschließlich jüdischen wird), kann, so der orthodoxe Geistliche, auch in Gnade verwandelt werden – eine rein christlich verstandene natürlich.

Marissen weist in „Bach & God“ auch darauf hin, dass die kommentierenden Passagen, die der Dichter Picander für die Matthäuspassion schrieb, von einer Gnade für alle sprechen. Und in der Johannespassion wird der Heiland gefragt: „Ist aller Welt Erlösung da?“ Der Sterbende antwortet „stillschweigend: ja.“ Selbst wenn man wie Jörg Hansen findet, dass „ein Verweis auf den [humanen] Appell der Choräle und Arien das Problem nicht löst“, das die Wutchöre stellen, muss man Marissen zustimmen, dass „Feindschaft gegenüber Juden weder Thema noch Zweck des Kommentars in der Erzählung der Matthäuspasion sind“ und dass die Johannespassion „den Fokus von der Ungläubigkeit ´der Juden zu den Sünden der christlichen Gläubigen verschiebt.“ Alles wieder gut?

Für Bach, den gläubigen Lutheraner, stand außer Frage, dass das jüdische Volk sich durch Kreuzigung Jesu und Uneinsichtigkeit doppelt schuldig gemacht hatte. In einer Kantate seines ersten Leipziger Jahres 1723 geht es so gnadenlos zu, dass Hansen wie Marissen auf sie verweisen. Am 10. Sonntag nach Trinitatis hatte der neue Kantor Musik zu liefern, die sich mit der von Jesus angekündigten Zerstörung Jerusalems befasst. In „Schauet doch und sehet“ wird in gespannter Harmonik „ein unersetzlicher Verlust der allerhöchsten Huld“ verkündet und dann gar von „Gott, nach viel Geduld“, der Stab über die Juden gebrochen.

Ewige Verdammung – das entsprach ganz der Predigt zu diesem Anlass. Immerhin rief der Librettist nicht, wie Luther, zu Aktionen gegen jüdische Zeitgenossen auf. Und man könne, so Marissen, „von der Kantate nicht ernsthaft erwarten, dass sie den liberalen Überzeugungen des 21. Jahrhunderts entspricht.“ Diesen Punkt betont auch Jörg Hansen, wenn man ihn fragt, ob von Bach zeitlose moralische Größe erwartet werden darf. „In der kirchenmusikalischen Interpretation schwingt noch eine gewaltige Portion der nationalchauvinistischen Überhöhung mit, die man vor 50 Jahren noch hatte – Bach als fünfter Evangelist, dessentwegen die Leute konvertieren. Muss man das alles auf ihn projizieren?“

Es macht Bachs Musik nicht geringer, wenn man den Antijudaismus kennt, in dem er sozialisiert wurde und den er belieferte wie jeder andere lutherische Kirchenmusiker des Barock. Er war ein Kind seiner Zeit, von der Theologie bis zur musikalischen Rhetorik. Bach ist groß, weil selbst die Wutchöre der „Juden“ historisch multipel gehört werden können. Es ist eine Perspektive darin, in der man jegliche Mobdynamik erkennt, vom Römischen Reich über das Deutschland um 1700 bis heute. Felix Mendelssohn übrigens, um dessen Wiederaufführung der „Matthäuspassion“ 1829 der zweite Teil der Eisenacher Schau gruppiert ist, hat damals vieles gestrichen. Aber nicht diese Chöre.

„Luther, Bach – und die Juden“. Bis 6. November im Bachhaus Eisenach / Michael Marissen: „Bach & God“. Oxford University Press 2016, 288 S.

Dieser Text erschien gekürzt in der ZEIT vom 14. Juli 2016 und ist urheberrechtlich geschützt