„Bin ich nun frei? Wirklich frei?“

Freiheit in der Musik: Eine Geschichte der kreativen Ausweichmanöver, der mutigen Vorstöße und politischen Instrumentierungen

1565 begann Carlo Borromeo in Mailand aufzuräumen. Der Bischof, den man als grimmen Kardinal aus Pfitzners Oper Palestrina kennt, war einer der eisernen Besen der Gegenreformation. Korruption und Dekadenz sollten aus den Kirchen verschwinden, die zu Marktplätzen geworden waren. In der Kathedrale ließ Carlo das Querschiff sperren und das Devotionaliengerümpel entfernen. Auch die Kirchenmusik wurde geläutert. Statt „leerem Vergnügen“ hatte das Trienter Konzil für die Messe Vertonungen gefordert, in denen jedes heilige Wort klar zu verstehen war (sofern man Latein verstand). Nach dem Ende des Konzils 1564 wurde Carlo Mitglied einer Kommission zur Reform der Kirchenmusik, und als neuer Bischof von Mailand hatte der erst 27jährige die Macht, Reformen durchzusetzen: Schluss mit allzu komplexer Polyphonie!

Einem gefeierten Meister wie Vicenzo Ruffo befahl er, eine Messe „so klar wie möglich“ zu schreiben. Der beugte sich den Anweisungen des katholischen Formalistenjägers und wurde archaisch, das raffinierte Stimmengeflecht wich akkordischem Deklamieren. Doch in der Praxis hatte der Kahlschlag die Folgen eines geschickten Baumschnitts: Allenthalben trieben neue Äste aus, in den blockartigen Strukturen blühte die Kunst der Verzierung. Die befand sich zu dieser Zeit auf einem Höhepunkt: Allein für den Weg vom D zum E (also etwas so Simples wie die ersten beiden Noten von „Alle meine Entchen“) hat ein Zeitgenosse 35 mögliche Ornamentierungen dokumentiert, von denen die längste 40 Noten umfasste…

Domkapellmeister Ruffo hätte nebenher auch weiterhin weltliche polyphone Madrigale schreiben dürfen. Aber er kam mit der verordneten Ästhetik so gut zurecht, dass er nur noch sakral komponierte und uns noch heute beglückt mit sanft fortschreitenden Grundharmonien, über denen sich aberwitzige Schichtungen bilden. „Wenn etwas nicht so kommt, wie man dachte, kommt oft etwas besseres raus“, sagte mehr als vierhundert Jahre später Ruffos Kollege Peter Eötvös über seine Erfahrungen mit Restriktionen im Ungarn der 1950er Jahre. Freiheit in der Musik entwickelt sich nicht selten unter Druck. Übrigens auch bei den Rezipienten, die in der Musik mitunter gespiegelt sehen, was sie politisch umtreibt: Opern können Aufstände auflösen, ein Versöhnungskonzert kann zu diplomatischen Auseinandersetzungen führen.

Gesprengte Keuschheitsgürtel

Wer in dieser Perspektive eine Geschichte der Freiheit in der Musik skizzieren will, entdeckt eine Parallelgeschichte zur „geraubten Musik“ der Zensuropfer, der verbogenen Geister und verhinderten Aufführungen. Er landet zum Beispiel im Rom des Jahres 1700. Für dieses „Heilige Jahr“ hatte Papst Clemens IX. ein Opernverbot verhängt, um dem weltlichen Treiben Einhalt zu gebieten. Dann folgte aus politischen Gründen noch so ein Jahr, dann ein Erdbeben, das keine Opfer forderte. Zum Zeichen der Dankbarkeit verordnete der Papst seiner Stadt weitere fünf Jahre demütiger Abstinenz von den sündigen Wonnen des Musiktheaters. Was die Komponisten nicht verdroß: Während sie von Neapel bis Venedig Opern schrieben, blühte am Tiber das Oratorium.

Das „melodramma sacro“, schreibt Claudio Osele, „gelangte in Rom zu einer Blüte, die in ihrer Art und Stärke beispiellos war“. Was sollte der Papst schon dagegen tun, dass in Alessandro Scarlattis Rosengarten die göttliche Barmherzigkeit zum „amoroso fuoco“ wird in Tönen eines heiter erotischen Schäferspiels? Dass Georg Friedrich Händels römische Koloraturen jeden Keuschheitsheitsgürtel sprengten? Seine Arie „Lass die Dornen, pflücke die Rose“ aus Il trionfo del tempo indessen ist von innigster Zärtlichkeit, gedichtet hat das ein Kardinal. Benedetto Pamphilj hielt wenig von den päpstlichen Verordnungen. Und ab 1710 gab es wieder Opern in Rom.

Ein Freiraum gegen den Adel

Eine Oper ist es auch, die den größten gesellschaftlichen Umbruch im 18. Jahrhundert vorwegnimmt, spiegelt, differenziert – und das auch noch auf ausdrücklichen kaiserlichen Wunsch. Schon 1776 hatte in Paris der Unternehmer und Literat Beaumarchais mit der Arbeit am Theaterstück La folle journée ou Le mariage de Figaro begonnen, in dem ein intelligenter Kleinbürger einen arroganten Adligen austrickst. Als König Ludwig XVI. das 1782 las, soll er gesagt haben: „Wenn ich dieses Stück genehmigte, wäre es völlig inkonsequent, nicht gleich die Bastille einzureißen.“ Erst nach vielen Änderungen konnte es 1784 zur Uraufführung kommen – ein triumphaler Erfolg.

In Wien untersagte Kaiser Joseph II. die Aufführung der Komödie. Dann legte ihm aber Lorenzo da Ponte ein Opernlibretto vor, das den Kaiser von der politischen Unbedenklichkeit überzeugte – zumal die italienische Oper vor allem vom Adel besucht wurde, „einerseits wegen mangelnder Sprachkenntnisse der breiten Volksschichten, andererseits aber auch wegen der enorm hohen Eintrittspreise“, wie Volkmar Braunbehrens erläutert. Dem Kaiser, der den Abbau von Priviligien betrieb, passte das gut: Der von ihm geschätzte Wolfgang Amadeus Mozart würde genau der richtigen Zielgruppe ein Liedchen gegen ihren Dünkel schreiben.

Eine opera buffa wurde es und, dem pikierten Adel zum Trotz, ein Erfolg: „Was in unsern Zeiten nicht erlaubt ist, gesagt zu werden, wird gesungen“, notiert die Wiener Realzeitung am 11. Juli 1786, zwei Monate nach der Uraufführung, der zunächst acht umjubelte Vorstellungen folgten. Nach rasendem Erfolg in Prag wurde „Le nozze di Figaro“ in Wien erst nach dem Pariser Sturm auf die Bastille wieder gespielt – dann aber gleich 29 Mal. Der „Fall Figaro“ bezeichnet eine Schnittstelle in der „Freiheitsgeschichte“ der Musik. Mozart umschiffte kein Verbot, er nutzte einen protegierten Freiraum. Darin bündelte er den Geist der Zeit nicht zur politischen Botschaft, sondern differenzierte ihn aus: Das eigentlich Revolutionäre an Le nozze di Figaro sind zeitgenössische Menschen auf der Bühne. Ein Diener ist dort so wichtig wie einst Götter und Herrscher, und er fordert einen Grafen heraus – wobei Mozart durchweg emotionale Ambivalenzen jenseits von Gut und Böse musikalisch realisiert. Er wusste um den Widerstand, den es gab, schrieb wie sein Librettist subtil dagegen an und triumphierte, als eine „gar hocherläuchte“ Prinzessin in Prag mit dem Versuch scheiterte, den Figaro zu verhindern.

Ein revolutionäres Missverständnis

Von Mozarts subversivem Elan war Daniel-François-Esprit Auber weit entfernt, als er mit „Die Stumme von Portici“ ein historisches Spektakel für die Pariser Oper schrieb und dafür einen Vorgang von 1647 aufgriff, den Aufstand neapolitanischer Fischer gegen die Tyrannei eines spanischen Vizekönigs: Der Aufstand eskaliert, der Pöbel wird brutal, ein Ausbruch des Vesuv sorgt für ein feuriges Ende. Das ist alles andere als ein Plädoyer für Volkserhebungen und wurde 1828 auch nicht so rezipiert. Doch es kam die Pariser Julirevolution 1830 mit der Entmachtung der Bourbonen. Schon im Juni hatte übrigens Beethovens politisch brisante Oper „Fidelio“ (1805) ungeheuren Erfolg in Paris gehabt – freilich auch wegen der herausragenden Gastsolistin Wilhelmine Schröder-Devrient als Leonore.

Am 25. August 1830 wurde Aubers Stumme im Théâtre de la Monnaie in Brüssel gegeben – einer Stadt, in der unter der rigiden Herrschaft des niederländischen Königs Wilhelm I. enorme Spannung herrschte. Der 58. Geburtstag des Monarchen sollte mit dieser Aufführung gefeiert werden. Doch schon eine Duettzeile im zweiten Akt hatte das Publikum unruhig gemacht: „Amour sacré de la patrie“, die „heilige Vaterlandsliebe“, ist ein Zitat aus der „Marseillaise“, die es gerade zu neuer Popularität gebracht hatte. Im dritten Akt besang der Tenorheld mit dem Chor das Ende der Sklaverei, auf der Bühne wurden Soldaten entwaffnet, im Parkett standen immer mehr Zuhörer auf und riefen „Zu den Waffen!“, die Menge strömte aus dem Haus, ließ draußen die zur Geburtstagsfeier versammelten Massen außer Kontrolle geraten, man stürmte Redaktionen, Ministerien, der vierte und fünfte Akt interessierten keinen mehr.

So begann jene belgische Revolution, die im Oktober 1830 mit der Unabhängigkeitserklärung endete, als kollektives Mißverstehen einer eigentlich affirmativen Oper: Man hörte die Signale, die man brauchte. Richard Wagner schwärmte noch 30 Jahre später: „Selten stand eine künstlerische Erscheinung mit einem Weltereignis in einer genaueren Beziehung.“

Fliegende Gedanken

Das berühmteste Beispiel dafür, wie ein musikalisches Werk in den Freiheitskampf gerät, ist der Chor „Va pensiero“, „Flieg, Gedanke“. Mit ihm äußern die verfolgten Hebräer in Nabucco ihre Sehnsucht nach der Heimat, und siebzehn Jahre lang bezog das niemand auf die politische Situation in Italien. Erst als Giuseppe Verdi 1859 zum Symbol des Risorgimento wurde  – der Befreiung von österreichischer Herrschaft – hörte man den Chor als Hymne für „patria“ und „libertà“, während der Name des Komponisten für eine parlamentarische Monarchie stand: „V(ittorio) E(manuele) R(e) D´ I(talia)“. Und Verdi selbst, seit 1861 Abgeordneter, lieferte die passende Stilisierung nach, indem er einem Biografen erzählte, wie sich ihm einst das Libretto just auf der Seite mit den Worten „Va pensiero…“ ganz von selbst aufgeschlagen habe.

Man kann daraus einiges über Projektionen lernen. Im Grunde lässt sich jede Musik zur Stellungnahme instrumentalisieren, etwa so, wie Eric Saties verspielte Ballettmusik „Parade“ anno 1917 einerseits als unfranzösisch, andererseits als Rettung der französischen Musik aufgefasst wurde. Man könnte auch J.S. Bach zum Freiheitskämpfer erklären, weil die Gemeinde dem jungen Organisten in Arnstadt vorwarf, er habe „in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone mit eingemischet“. Aber von solchen Verwerfungen ist alles Unvertraute begleitet. Wenn es einen gibt, der als Komponist wirklich größtem politischen Druck ausgesetzt war und darauf öffentlich kreativ reagieren konnte, dann ist es Dmitrij Schostakowitsch.

Das Porträt des Tyrannen

Während vergleichbar widerständige Geister im totalitären Deutschland entweder das Leben verloren oder das Land verließen, hielt Schostakowitsch unter Stalin durch und setzte sich kurz nach dessen Tod 1953 an seine Zehnte Sinfonie. Er hoffte auf Tauwetter, aber die Zeit für eine offene Abrechnung war noch nicht gekommen. Schostakowitsch wies im dritten Satz mit seiner Signatur „D-Es-C-H“ das Werk als persönliches Bekenntnis aus und ließ ihm ein extrem kurzes, schnelles, lautes, brutales Scherzo vorangehen – nach eigener, späterer Aussage „ein musikalisches Porträt des verbrecherischen Tyrannen“, wie der Biograf Krzysztof Meyer schreibt. So viel immerhin riskierte Schostakowitsch, dass die Staatsästheten nach der Uraufführung in Leningrad  Lunte rochen: Pessimistisch sei das neue Werk, voller „karikaturistischer Bilder.“

Welche kulturpolitische Bedeutung diese Partitur hatte, erkennt man daran, dass der Komponistenverband der Sowjetunion ein Plenum einberief, aus dem eine Broschüre mit rund 20 Beiträgen zur „Zehnten“ und deren Anerkenung hervorging. „Die am Ende positive Aufnahme“, so Meyer, „bewies, dass sich allmählich etwas im sowjetischen Musik- und Kulturleben zu bewegen begann.” Nach seiner Einschätzung beginnt schon hier die Veränderung, die „in den Beschlüssen des ZK [Zentralkommittee der KPdSU] im Jahre 1958 sichtbar werden.“ So gesehen, hat Schostakowitsch mit einigem Risiko zum frühest möglichen Zeitpunkt einen neuen Freiraum für die Kunst gewonnen.

So klingt der Untergang

In der Folge konnte 1959 ein DDR-Komponist wie Friedrich Goldmann zu Stockhausen in den Westen pilgern, konnte in Budapest Peter Eötvös zumindest in Filmmusiken die Anregungen von Stockhausen und Boulez unterbringen, die offiziell verpönt waren. Und welche Freiheit in der späten DDR möglich war, wenn man sie im Schutz einer Institution zu beanspruchen wagte, zeigt die Commedia per musica, die Gewandhauskapellmeister Kurt Masur in Auftrag gab. Friedrich Schenker, Jahrgang 1942, Kompositionsschüler von Paul Dessau und einer der eigenwilligsten Köpfe der Republik, sollte ein Werk zum 40. Jahrestag der DDR schreiben. Zur Uraufführung am 7. Oktober 1989 in Leipzig passt Richard Wagners Satz von der Beziehung einer „künstlerischen Erscheinung mit einem Weltereignis“ wirklich mal etwas „genauer“.

In Leipzig demonstrierten an diesem Samstagabend 5000 Menschen, vor dem Gewandhaus kamen Wasserwerfer zum Einsatz. Und drinnen eitel Harmonie? Nicht mit Friedrich Schenker. Commedia per musica ist kein Titel für ein Weihefest, und die Masken der Komödie werden zu Fratzen einer Tragödie. Sie hat entsetzliche Stellen. Weniger wegen des des Pegels, den ein Orchester mit großem Schlagwerk und Chor hervorbringt. Die Wucht entsteht, weil die Form nicht hält. Die Commedia ist befrachtet mit Anspielungen. Verfremdete Zitate lässt Schenker von einem Kinderchor in Silben schneiden: „Oh Freunde dieser Töne“, „pecunia olet“. Man erlebt das Zerbrechen eines Stücks, in dem ein Künstler sagen wollte, wie es ihm mit seinem Staat ergeht.

Kurz vor Schluss erstarrt die Partitur, als sei das ihr geheimer Kern, in viereckigen, undurchdringlichen, brüllenden, grauen Blöcken, unten schwere Schläge, oben schrilles Pfeifen. Zwölf Sekunden lang hört man hier den Zustand, in dem das Stück mit seinem historischen Ort zusammenkommt. Zwei Tage später bewegte sich die bis dahin größte Montagsdemonstration über den Leipziger Ring. Ihr war auf 25000 Flugblättern ein Aufruf zur Gewaltfreiheit vorausgegangen, und tatsächlich blieben die Demonstranten unbehelligt. Es folgte der berühmt gewordene abendliche Aufruf sechs prominenter Leipziger, den Kurt Masur verlas, es folgte eine friedliche Revolution. Welchen Spannungen zum Trotz, das ist bis heute in der Commedia zu hören.

Sie sind nicht wirklich frei

Heute, würde man gern sagen, geht alles. Komponisten können so atonal, mikrotonal, tonal, polyphon und homophon, so „politisch“ oder „unpolitisch“ schreiben, wie sie wollen. „Sie sind frei und können machen, was sie wollen“, sagte Pierre Boulez vor drei Jahren im Gespräch mit dem Autor. „Das ist vielleicht schwieriger, als kämpfen zu müssen wie wir damals. Alberich sagt im Rheingold: ,Bin ich nun frei? Wirklich frei?´ Sie sind nicht wirklich frei, denn es gibt die Geschichte eines Jahrhunderts moderner Musik, und man muss damit leben.“

Sie sind nicht wirklich frei, muss man ergänzen, denn es gibt auch eine Gegenwart internationaler politischer Spannungen, die dem, was wir für selbstverständlich halten, unverhofft Sprengkraft verleihen: Aghet heißt ein Projekt nach dem armenischen Wort für den Genozid, den 1915 das Osmanische Reich an rund 1,5 Millionen Armeniern verübte, unterstützt vom deutschen Kaiserreich. Die Dresdner Sinfoniker haben Ageth als Zeichen der Versöhnung konzipiert und schon mehrfach aufgeführt : Musiker aus der Türkei, Armenien, Deutschland, aus den ehemaligen jugoslawischen Staaten spielen neue Werke der Türkin Zeynep Gedizlioğlu, des Armeniers Vache Sharafyan und des Deutschen Helmut Oehring.

Im Mai dieses Jahres verlangte die Türkei von der EU-Kommission in Brüssel, ihre Förderung für das Projekt einzustellen: Für die derzeitige türkische Regierung hat es nie einen Völkermord an den Armeniern gegeben. Ob Aghet, wie geplant, im November in Istanbul aufgeführt werden kann? Fest steht nur, dass die Kämpfe um die Freiheit auch in der Musik nie an ein Ende kommen.

Dieser Text erschien in 128, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, 3/2006 (September), S.14-21, und ist urheberrechtlich geschützt