“Ich bin ein woman fighter”

Die norwegische Sopranistin Lise Davidsen könnte Siegfried übers Knie legen. Jetzt wird sie in Zürich zur Agathe. Oder umgekehrt?

Wenn das keine Sängerin ist, bin ich Automechaniker. Es gibt eine Haltung, ein Profil, eine Art, sich zu bewegen, die nicht nur in der Nähe eines Opernhauses das Beruferaten leicht macht. Aber ist die Frau, die da vor dem Künstlereingang der Oper Frankfurt langsam und ernst auf und ab geht, die junge, just entdeckte Norwegerin, mit der ich verabredet bin? Die erst vor einem Jahr bei drei Wettbewerben nacheinander abräumte und im Royal Opera House zu London die Leute von den Sitzen riss, als sie im Finale von „Operalia“ die Hallenarie der Elisabeth sang? Eine 29jährige Newcomerin stellt man sich, so dumm das sein mag, irgendwie zerbrechlich vor. Und diese Frau da könnte, wäre sie Brünnhilde, einen Siegfried übers Knie legen. Es ist Lise Davidsen.

„Brünnhilde?“, meint sie wenig später im Café gegenüber der Oper, wo sie die Wotanstochter Freia singt. „Bis dahin habe ich viel zu lernen. Es ist ein großer Schritt zu den bigger ladies.“ Aber sie weiß, dass sie den tun wird, bei aller Bescheidenheit. In all der Ruhe, die sie hier verbreitet, dem Lärm von der Straße zum Trotz. Fürs erste bleibt sie „jugendlich Dramatische“, wie das Stimmfach heißt, und wird als Agathe im Züricher Freischütz debütieren. Von all dem hätte sich die dunkelhaarige Norwegerin vor sechs Jahren nichts träumen lassen. Da freute sie sich noch auf eine Mezzolaufbahn in der Barockoper, ein Leben unterhalb des hohen C und mit der Musik vor 1750. Bis zu dem Tag in Kopenhagen, als jemand sie „durchschüttelte“ und sagte: „Du bist kein Mezzo, sondern ein Sopran. Und du bist definitiv kein Barocksopran.“

davidsen

Aber fangen wir an in Stokke. Das ist ein Städtchen von 12000 Einwohnern nah am Oslofjord, wie Stockholm knapp oberhalb des 59. Breitengrads gelegen, es hat drei Baumstämme im Wappen, die vom wichtigsten Rohstoff der Gegend künden, und aus dem war auch das Instrument gebaut, für das Lise sich zuerst interessierte: die Gitarre. „Ich komme aus einer Familie, in der keiner Musiker ist“, sagt sie, „nicht mal als Amateur, auch wenn mein Vater als junger Mann in einer brass band spielte. Wir spielen alle Handball und interessieren uns für Sport. Aber ich sang gern, in der Schule, und ging in den Chor.“ Da entdeckte sie die Gitarre und die Barockmusik. „Es fing an mit Bach. Außerdem schrieb ich meine eigenen Lieder und wollte so eine Art singer and songwriter werden.“ Ein paar Sommer arbeitete sie auch, wie ihre Mutter, mit Behinderten, und erwog das als Beruf: „Es ist auf völlig andere Weise giving, bereichernd.“

Doch dann wurde sie von der Grieg Akademie in Bergen angenommen und fokussierte sich aufs barocke Mezzofach. Sie hörte, wie Kommilitonen von Susanna Eken in Kopenhagen schwärmten, einer der wichtigsten europäischen Gesangslehrerinnen, Autorin des Buchs Die menschliche Stimme. „Jeder wollte zu ihr, sie galt als Guru, und jeder kam zurück mit einem Aha-Erlebnis. Ich wartete lange, bis ich zu ihr ging. Danach dauerte es ein bisschen, bis ich noch mal kam…“ Warum? „Die erste Begegnung war schrecklich! Sie war sehr aufrichtig und direkt und streng, ich weinte tagelang. Dabei sagte sie auch Gutes über meinen Gesang, aber man merkt sich ja immer die bad things. Ich hatte trotzdem Lust, daran zu arbeiten, hörte mir meine Aufnahmen an, und als ich wieder zu ihr kam, war sie viel netter. Wir fingen an mit „Dich, teure Halle“, der Arie der Elisabeth. Sie wollte wissen, was möglich ist.“ Sie fand eine Menge.

So begann die Metamorphose vom Mezzo zum Sopran. Ist das wirklich so eine Umwälzung? „Ich nehme an“, fragt sie zurück, „wenn Sie Bratsche spielen, haben Sie doch auch eine Art von Identität?“ Oh ja. Geige käme nicht in Frage! „Es ist dasselbe mit der Stimme. Du hast eine Mezzo-Identität, und wenn das jemand ändert, musst du eine neue aufbauen, zusammen mit einem anderen Repertoire. Das ist eine Riesenaktion. Aber wenn ich zurückblicke, fühlt sich das alles an wie eine natürliche Entwicklung. Ich bin sehr glücklich, dass der Wechsel nicht früher kam, denn dann hätte ich den Mezzoteil meiner Stimme nicht so ausgebaut, der eine gute Basis für die Sopranpartien ist.“

Wer ihren Londoner Auftritt mit der „Hallenarie“ auf Youtube erlebt, stellt fest, dass der „Mezzoteil“ auch eine emotionale, intellektuelle Basis ist. Elisabeth grüßt ja nicht nur strahlend den „geliebten Raum“ auf der Wartburg, sie erinnert sich, in tieferer Lage, auch an den „düstren Traum“ nach der Trennung von Tannhäuser. Und da kann sich Lise Davidsen melancholisch fallen lassen in eine dunklere Glut, die dem Glanz nicht nachsteht, man hört keinen Registerwechsel, keine pflichtschuldig vorgetragene Facette, man erlebt einen ambivalenten Menschen. So eine kann auch die Ariadne ausloten, die Einsame, die sich in den Worten von Hofmannsthal und den Tönen von Strauss nach dem Totenreich sehnt. Wie Lise Davidsen „Es gibt ein Reich“ im Konzert zum Klavier singt, das ist auch in der konzentrierten Körpersprache eine reife Leistung, die berührt.

Mit einer jungen Diva, die dem Rampenlicht entgegenfiebert, hat sie jedenfalls nicht die geringste Ähnlichkeit, und über ihre Wettbewerbserfolge anno 2015 spricht sie ganz pragmatisch. „Die Wettbewerbe waren meine einzige Wahl. Ich hatte keine Jobs im Sommer und dachte, okay, ich flieg dahin und gucke, was passiert.“ Sie lacht. “Was dann passierte, war überwältigend.“ Stört es sie nicht, dass bei einem Turnier wie in London das Repertoire gerade mal von 1816 bis 1867 reicht und keine Experimente erlaubt? „Wenn man andere Musik hören will, sollte man da nicht hingehen. Für mich hat ein Wettbewerb nicht viel zu tun mit Musik und Kunst, er ist der einzige Weg, von so vielen wichtigen Leuten gesehen werden zu können. Und wenn man keinen Erfolg hat, they don´t care, es ruiniert nicht den Ruf. Man steuert dann eben aufs nächste Mal zu.“

Als Norwegerin ist sie groß geworden in einer Gesellschaft, in der man sich gegenseitig unterstützt. „Es gibt eine Menge Chöre und guter Leute, und wir sind stolz, wenn ein Norweger was Gutes macht, Kunst, Musik, Schach, was auch immer. Und es gibt das ungeschriebene Gesetz: Du sollst nicht gut über dich sprechen.“ Wie geht sie um mit dem Hinweis auf Kirsten Flagstad, den sich kaum ein Rezensent verkneift? Schließlich kam auch die, 1895 geboren und eine der größten Wagnersängerinnen des 20. Jahrhunderts, aus einem norwegischen Städtchen. „Ich finde das sehr nett, eine riesige Ehre, dass die Leute das kombinieren. Aber ich bin ich, und sie sang ein paar Jahre vor mir. Ich tue das in meine happy box und sage thank you. Es wäre für mich irritierender, mit jemandem von heute verglichen zu werden…“

Und nun wird sie sich in Agathe verwandeln. Eine von den Gestalten, die ergeben auf die Männertaten warten. Als „Zeugnisse aus der Dämmerung der Voraufklärung“ hat wegen solcher Frauenrollen jüngst Sibylle Berg die klassischen Opern abgetan. Wie sieht das eine selbstbewusste Sängerin? „Wir können nicht von der Oper einen Charakter erwarten, der alles spiegelt, was wir heute haben. Aber viele weibliche Charaktere haben Gefühle und Geschichten, die wir auch in unserer Zeit finden. Was Desdemona passiert, passiert vielen Frauen heute auch. Man muss aber auch akzeptieren, dass der Freischütz ein Märchen ist, und Märchencharaktere sind oft eindimensional. Da schüttelt es mich auch ein bisschen, ich kann schon verstehen, dass manche das abschreckt. Agathe ist ein potentielles Opfer, während ich ein woman fighter bin.“

Aber gerade diese Spannung fordert sie heraus. „Ich frage mich, wie kann die bloß so sein? Es geht ihr nur um Max, sie wartet auf das, was passiert. Sie kann ihm auch nicht sagen, schieß nicht mit diesen Kugeln. Sie weiß nichts. Dann sage ich mir, Lise, du musst jetzt DIESEN Teil von dir finden. Auch wenn er most definetely weit entfernt ist.“ Ich gestehe, ganz froh zu sein, dass diese Agathe mal keine zierliche Opferfrau ist. Sie lacht: „Dann hätte die Operndirektorin sie anders besetzen müssen.“ Ohnehin erwartet sie von Oper nicht Realitätsnähe, sondern „etwas, wofür es im täglichen Leben keinen Raum gibt. Wenn ich sehe, was in der Welt heute passiert… vielleicht können die Leute etwas von der Oper mit hinausnehmen, vielleicht sich in ihr öffnen, um etwas anderes zu fühlen als sonst. Wir sollten nie damit aufhören.“

Dieser Text erschien im MAG 41 der Oper Zürich, S. 26/27, September 2016, und ist urheberrechtlich geschützt. Foto: Florian Kalotay