Volle Dröhnung

Wieviel Gegenwart vertragen die Donaueschinger Musiktage? Sechzehn Uraufführungen suchen Antworten

stocki u teddyAuch sie waren in Donaueschingen wieder dabei, wenn auch nur als Feindbild des Gastvortragenden Roger Scruton: Stockhausen und Adorno, hier auf einem Foto aus den frühen 1960ern. (Bildarchiv Internationales Musikinstitut Darmstadt (IMD), Fotograf: Seppo Heikinheimo)

Schußserien von Maschinengewehren schlagen in die Wände, Helikopter fliegen tief, ein Mann brüllt im Schmerz. Grauenvoll. Doch wenn es damit schon beschrieben wäre, müsste man „Blutrausch“ kaum ernst nehmen, ein Werk für Orchester und Elektronik, mit dem die Donaueschinger Musiktage gleich zu Beginn polarisieren. Vom „Wacken der Neuen Musik“ sprachen manche mit Blick auf den Heavy-Metal-Gipfel im Norden. So laut war Donaueschingen noch nie, das wichtigste Festival der Avantgarde, und natürlich klang manche Dröhnung unter den sechzehn Uraufführungen eher hohl.

Aber nicht die 20 Minuten „Blutrausch“ des 50jährigen Schwaben Klaus Schedl, der brutale Kriegsakustik formt und konturiert, mit orchestralen Aktionen verschränkt, der mit Schnitten und Stapelungen den Druck einer gewalttätigen Gegenwart fokussiert. Auf Sekundenbruchteile genau brüllt und schreit sein Komponistenkollege Moritz Eggert als Sprecher, das Tempo ist so hoch wie das timing perfekt. Gestaltung ist hier kein Zynismus, nicht die flotte Zurüstung realer Gewalt für den Konzertsaal, sondern ein Standhalten im Hinsehen. Das bühnenfüllende SWR Symphonieorchester kann da nur noch einen Restklang liefern, wie die Farbe alter Häuser, die von zersiebten Wänden fällt.

Scheidls Exzess ist ein Extrem, dem als andere bedeutende Neuheit „Skin“ von Rebecca Saunders gegenübersteht wie ein Rückzug in die Stille. Für Sopran und dreizehn Instrumente hat die 49jährige Engländerin Texte von Beckett und Joyce umgesetzt, wie von ferne blickt sie auf die Welt, „history is a skin“, und ganz nah ist ihr das Inviduum, dem das Sprechen schwer fällt. „Very low projected whisper attack“ lautet eine von etwa 240 Ausführungsanweisungen, die sie ihrer Partitur voranstellt, und sie ist signifikant. Immer wird etwas verschwiegen, geflüstert, gepresst, nach ínnen gesungen oder gespielt (vom exzellenten Klangforum Wien) , wird Eindeutigkeit verweigert. Auch wenn Saunders damit fast zu musterhaft an die alte Hinterfragungsavantgarde anschließt, entsteht ein poetisches Gebilde, ein eigener Raum, der nachwirkt.

Danach wirken die Stücke von Bernhard Gander und Michael Wertmüller, vom selben Ensemble und den Rockmusikern vom Steamboat Switzerland gespielt, wie laute Musik für große Jungs derselben Generation, die Spaß haben wollen. Wertmüller erzeugt auf genau durchgerechneter Basis eher beliebige Kurzweil, während Tattooträger Gander testosteronhaltige ostinati wummern lässt, in denen die klassischen Instrumente zu Schatten reduziert werden – wie, nur eben aus völlig anderer und skrupulöser Perspektive, bei Rebecca Saunders. Dafür zitiert er in „Cold Cadaver with Thirteen Scary Scars“ sogar Beethovens Fünfte, als ironische Referenz und poppiges branding à la Andy Warhol.

Als „Tuchfühlung mit den Sphären der Unterhaltungsmusik“ wird dergleichen etwas klamm in einer Pressemitteilung der Musiktage deklariert, die allerdings kein explizites Leitmotiv haben. Anders als sein Vorgänger Armin Köhler steckt der 1967 geborene Festivalchef Björn Gottstein keine Themenfelder ab, schon aus dem ganz praktischen Grund, dass 60 Prozent der SWR-Kompositionsaufträge noch auf Köhler zurückgehen. Zudem ist man in Gottsteins Generation nicht mehr so versessen auf das Fokussieren von Tendenzen – es gibt derer so viele, dass eher die Interpreten selbst Verbindungen herstellen.

Das Ensemble Recherche spielt Peter Ablingers ermüdende Dekonstruktion  „Die schönsten Schlager der 60er und 70er Jahre“ nicht minder engagiert als Martin Smolkas „A yell with misprints“. Hier wechseln sich choralhafte Hauchtöne der Streicher, gleichsam “gefundene“ Akkorde, mit wild jaulenden und zwitschernden Ausbrüchen kleiner Gongs der Pekingoper ab, und es entsteht in den sparsamen Tönen eine fast erotische Ruhe des Betrachtens. Die einen langweilen sich damit zu Tode, die anderen vergessen darüber die Zeit. Selten wurde in Donaueschingen so konträr, aber auch so gelassen diskutiert.

Selbst der britische Paläokonservative Roger Scruton wird freundlich als historisches Relikt beklatscht, wenn er in einem Vortrag die Abrechnung mit Adorno und dem Serialismus liefern, die man hier seit zwanzig, dreißig Jahren hinter sich hat. Nur die Altideologen pflegen daraufhin zwischen hunderten jungen Leuten der Generation Twitter ihre Beißreflexe. Dass indessen auch Peter Eötvös schon historisch wirkt, der große Entgrenzer der Gegenwartsmusik, ist keine Generationenfrage. Der 72jährige zieht sich mit „The Sirens Circle“ für Sopran, Streichquartett und Elektronik weit hinter frühere Positionen zurück und vertont Texte von Joyce, Homer und Kafka so brechungslos assoziativ, dass man Adorno fast schon wieder vermisst.

Mit „Atlantis“ war Eötvös indessen schon 1995 ein Vorreiter jener apokalyptisch wummernden Fusionen von Orchester und Elektronik, wie sie nach Schedls „Blutrausch“ auch Franck Bedrossian mit „Twist“ liefert: Nicht so zwingend, aber ebenso symptomatisch für das Gegenwartsgefühl, sich permanent im falschen Film zu befinden, in einer Zeit des Umbruchs. Doch das frisch fusionierte SWR Symphonieorchester, geleitet von Pierre-André Valade und Alejo Pérez, durfte sich von der Blockbusterelektronik mehrfach freispielen und zuletzt sogar in reinem c-Moll schwelgen: Georg Friedrich Haas, sonst bahnbrechender Mikrointervalliker, hat für Mike Svoboda ein Posaunenkonzert geschrieben, das aus der Sinnlichkeit reiner Harmonien über eine Folge beschleunigter Modulationen in ein Meer kleiner Glissandi kippt.

Haas war zwar schon mal abgründiger, und sein Konzert endet wie nicht ganz fertig. Doch wie das Orchester zum halb liquiden Körper wird, das lässt einen mehr schwindeln als die kühnsten Digitalaktionen. „Diese Performance kann zu zeitweiliger Desorientierung führen“, heißt es auf einem Warnzettel des Festivals. Der wird aber nicht bei Haas oder Schedl verteilt, sondern im Gewölbe der Hofbibliothek, wo Yutaka Makino die Besucher einzeln in eine Isolierzelle bittet. Man wartet etwas ängstlich. Und erlebt dann in einer kinderschlichten Kurztherapie mit Licht und Klang, wie gut es tut, sich mal von all den Extremen und Umbrüchen, vom Toben der ganzen Welt zu erholen. Wenigstens für zehn Minuten.

Dieser Text erschien – mit geringfügigen Abweichungen – in der ZEIT vom 20. Oktober 2016 und ist urheberrechtlich geschützt