Von Mäusen und Menschen

Erzählen!“, befehlen die beiden. „Erzählen? Aber ich hab doch vorgestern schon…“ So lange habe ich schon am Schreibtisch gesessen, zum Recherchieren und Schreiben, ich bin k.o. an diesem Abend. Aber ausgedacht habe ich mir heute nichts, da könnte noch etwas Phantasie übrig sein. Und die beiden liegen so erwartungsfroh nebeneinander im Bett von Paul. Dort hat ihm Frido nämlich gerade noch aus einem Pixibuch vorgelesen. „Also gut… mal überlegen.“ „Was mit den Mäusen!“, rufen sie. Die seien so lange nicht dran gewesen.

Es handelt sich um mittlerweile sechs Mäuse, die sich meist in unserem Haus treffen. Grundi, die dickste, wohnt hier sowieso und befreundete sich mit der Waldmaus, die bis heute keinen Namen hat und eine Wurzelwohnung im Wäldchen besitzt. Dann lernten sie Charly, die Kirchenmaus kennen, die erfahrenste von allen. Später kamen Bendi und Viktor, Zugewanderte, die jetzt im Pfarrhaus leben, und Frederik, der in eine Katze verzaubert worden war und nur erlöst werden konnte, indem eine Maus furchtlos und langsam an ihm vorbeischritt. Das war eines von jetzt bestimmt dreißig Abenteuern.

Sie haben schon eine Menge erlebt, haben sich an Drachenschnüren festgeklammert und sind übers Feld geflogen, wurden von der Eule vor fiesen Ratten gerettet, sie haben gemeinsam ein Paket Kuchen vom Bäcker in den Wald geschleift. Bei einer Kirchenbesichtigung ist der dicke Grundi in eine Orgelpfeife gefallen und war nur mit Mühe wieder herauszukriegen, und seine Vorliebe für süße Krümel hat nicht nur ihn schon oft in Gefahr gebracht. Natürlich müssen sie auch bei uns im Haus aufpassen, nicht erwischt zu werden, denn wir können ja nicht wirklich wissen, dass es nette Mäuse sind.

Sie beobachten uns. Sie kennen unsere Gewohnheiten und studieren unsere Bräuche, und jetzt gerade haben sie festgestellt, dass alle vier Menschen im Haus, die Erwachsenen und die beiden Jungs, dauernd heimlich Sachen einpacken. Selbstgemachtes und Spielzeug, Bücher und Leckereien. „Warum tun sie das?“, fragt die Waldmaus, und Charly erklärt ihr und den anderen, dass es Geschenke sind. „Geschenke?“ „Ja, das ist etwas, was man kriegt, ohne dass man es bezahlen muss.“ „Aber das machen wir doch immer so!“, sagt Grundi. „Wenn wir Hunger haben, holen wir uns was, wo wir es finden.“

„Ja, aber die Menschen haben viel mehr Hunger als wir, und außerdem reicht es ihnen nicht, dass sie was zu essen haben“, meint Charly. „Sie möchten auch Spielzeug haben, zum Beispiel.“ „Sie könnten doch auch mit einem Stock spielen, wie die Hunde“, schlägt Viktor vor. „Oder einen Apfel rollen wie die Katze“, sagt Bendi. „Das ist ihnen zu einfach“, sagt Charly. „Sie haben Finger und wollen damit etwas anstellen. Etwas zusammenbauen, oder in einem Buch blättern.“ Zu Weihnachten jedenfalls, erklärt die Kirchenmaus, bereiten die Menschen Geschenke vor, heimlich, damit es Überraschungen werden.

Frido meldet sich zu Wort. „Könnten die Mäuse sich nicht mal erzählen, was die Menschen da einpacken?“ Er möchte – das bleibt unerwähnt – natürlich wissen, ob auch der Legobausatz dabei ist, den er sich wünscht. „Nee“, sage ich, „das müssen sie sich gar nicht erzählen, weil sie es ja sowieso gemeinsam beobachtet haben.“ Vielmehr finden die Mäuse diesen Brauch so interessant, dass sie einander nun auch etwas schenken wollen und sich in Haus und Stall auf die Suche begeben. Die Waldmaus wickelt für Grundi zwei geklaute Kekse in einen Zeitungsfetzen, und Charly macht Schmuck aus Schraubenmuttern.

„Jetzt sollst du alles erzählen, was sie zu Weihnachten kriegen!“, sagt Paul und fügt beiläufig an, „und die Menschen!“ „Keine Ahnung. Das weiß ich doch selbst erst zu Weihnachten. Dann geht die Geschichte weiter!“ Damit sind sie erstaunlicherweise zufrieden. Nur nicht damit, dass es jetzt noch drei Tage dauern soll. „Mir geht das viel zu schnell“, sage ich. „NEIN! Zu langsam!“ Für Frido und Paul dehnt sich jeder Tag länger, vor Spannung. Und die Mäuse? Vorm Einschlafen höre ich sie über mir rascheln und lärmen, im Gebälk. Ich wüsste jetzt auch ganz gern, welche Geschenke die da vorbereiten.

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