“Simon sagte: Du könntest dirigieren!”

Karina Canellakis war mit der Geige ganz glücklich. Doch dann kam alles so anders, dass die 35-jährige New Yorkerin jetzt als Dirigentin um die Welt reist. Wir trafen uns in Schottland.

Es muss da oben sein“, sagt eine Joggerin auf der menschenleeren North Deeside Road, „glauben Sie mir, ich lebe hier, seit ich fünf Jahre alt bin!“ Zwanzig Minuten lang bin ich mit dem Bus Nr. 19 aus dem Zentrum von Aberdeen, hoch oben an der schottischen Nordseeküste, nach Westen gefahren. Von einem „Queen Elisabeth Theatre“ keine Spur. Dass es der kleine Saal der International School of Aberdeen ist, findet der Reisende erst heraus, als er das ferienstill im Grünen liegende Institut betreten hat. Es hat was, sich so am Rand der Welt mit einer Dirigentin zu verabreden, die kürzlich in Hongkong dirigiert hat und morgen nach Los Angeles aufbrechen wird. Heute jedenfalls tritt Karina Canellakis in Schottlands verstecktestem, abgelegenstem Konzertsaal auf.

Das Scottish Chamber Orchestra, dessen Sommertournee hier endet, ist noch nicht eingetroffen, wohl aber eine zierliche 35jährige mit Jeans und blondem Pferdeschwanz, das Futteral mit dem Konzertanzug über der Schulter und ganz ohne die Bugwelle einer steilen Karriere. Eine gebürtige Amerikanerin, von deren besonderem Talent noch vor drei Jahren außerhalb von Dallas nur wenige wussten. Dass unter diesen wenigen allerdings auch Simon Rattle war, spielt eine große Rolle in Karinas Geschichte. Er wusste es wohl sogar eher als sie selbst, die als Orchestergeigerin ganz glücklich war. „Ich liebte meine Violine und hatte ein interessantes und volles Leben als Geigerin“, sagt sie voller Wärme, entspannt auf einem Hocker in der leeren Garderobe.

Aber in ihrem Leben war von Anfang an das Dirigieren nicht fern, denn Karinas Vater, halb Grieche, halb Russe, leitete ein paar kleine New Yorker Orchester. Und da ihre Mutter Pianistin war, stand zumindest Musik als Zentrum früh fest. Von der Geige war die Dreijährige fasziniert, seit sie in der Sesamstraße einen Auftritt von Itzak Perlman erlebt hatte. „Er spielte und sprach mit Elmo und Krümelmonster, und ich sagte: I want the violin!“ So starten Wunderkinder. Aber Karina wurde keines – zu hibbelig für ordentlichen Unterricht, den sie erst mit sechs Jahren bekam, „und ich wollte nicht üben, nur spielen! Ich bin sehr dankbar, dass meine Eltern so diszipliniert waren und sagten: nur fünf Minuten, aber täglich!“ „Cool“ fand sie das Üben erst mit neun, weil eine russische Freundin sie beeindruckte, die jeden Tag bis zu vier Stunden lang geigte.

Von da war es erstmal ein gerader Weg ans Curtis Institute in Phildelphia, wo sich Karina zur Geigerin ausbilden ließ und kurz vor ihrem Abschluss mit 22 Jahren im Studentenorchester saß, mit dem gelegentlich Gaststars probten. Auch Simon Rattle, der ihr riet, sich für die Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker zu bewerben – ein Praktikum auf höchstem Niveau. „Ich glaube, er war überrascht, als ich sechs Monate später tatsächlich kam. Es gab fast keine Amerikaner unter den Stipendiaten. Er hat mich ein bisschen beobachtet, glaube ich, weil er wusste, dass ich auch Dirigierkurse nahm. Nicht für einen Beruf, nur als Ergänzung.“ Sie war Konzertmeisterin der Stipendiaten, als sie Schönbergs Verklärte Nacht aufführten. „Simon saß in der ersten Reihe. Er sagte hinterher, Karina, du hast leadership qualities. Du könntest dirigieren!“

Verglichen mit dem, was daraus wurde, sieht es aus, als habe sie sich zuerst geradezu dagegen gewehrt. Nach den zwei Berliner Jahren jobbte sie als Konzertmeisterin, spielte dreieinhalb Jahre lang jede Woche als Aushilfe im Chicago Symphony Orchestra, bewunderte, wie Bernard Haitink Bruckner-Sinfonien dirigierte und Pierre Boulez Bartók. „Aber nach drei Jahren als zweite Geigerin wollte ich nicht mehr nur eine Stimme sehen, ich wollte alles sehen und alles wissen.“ Und immer, wenn sie Rattle traf – für die Berliner Philharmoniker flog sie extra nach New York – fragte er: „Was macht dein Dirigieren?“ Sie war 29 Jahre alt, als sie ein zweites Mal studierte. Dieses Mal Orchesterleitung an der Juillard School. Mit 32 wurde sie Assistentin des Chefdirigenten Jaap van Zweden in Dallas, ein Jahr später sprang sie in letzter Minute für ihn ein: Schostakowitschs Achte, ein Werk, das über eine Stunde lang ist, seine düsterste Sinfonie. Es wurde ein Triumph.

canellakis

„Für mich war es giving me the boot and kick me on stage.“ Immer wieder verbindet sie Deutsch und Amerikanisch, wenn sie erzählt. „Ich wusste vorher nicht, dass ich das kann, ich habe nicht das große Ego.“ Ist das bei Dirigenten nicht biologisch notwendig? Sie lacht. „Es ist notwendig, dass man sich in seiner Haut wohlfühlt. Du musst überzeugt sein von dem, was du in der Musik gefunden hast. Ich bin nicht so ein arrogantes…“ Nein, das ist sie nicht. Die Überraschung ist ihr jetzt noch anzumerken, mit der sie vor zwei Jahren auf eine Anfrage aus Graz reagierte. Der erkrankte Nicolaus Harnoncourt hatte einen Auftritt mit dem Chamber Orchestra of Europe abgesagt, der Intendant der Styriarte wollte keinen großen, alten Promi-Dirigenten als Ersatz. Sondern sie. „Ich dachte, es war ein Witz!“ Aber dann saß sie mit dem alten Revolutionär Harnoncourt bei Kaffee und Kuchen in seinem Bauernhaus und ging mit ihm Dvořáks Achte durch, die Partitur randvoll mit seinen Notizen. Alice Harnoncourt sagte: „Sie müssen´s ja nicht so machen. Aber es hilft.“

Es wurde Karinas Durchbruch. Seitdem kommt man mit dem Zählen ihrer Debüts kaum noch hinterher, seitdem nutzt sie ihre New Yorker Wohnung eher als Partiturenlager, „meine Heimat ist der Koffer“, sagt sie. In Zürich dirigierte sie einige Vorstellungen von Verdis Requiem, auf die Züricher Zauberflöte bereitet sie sich jetzt vor. „Ich singe das und spiele das auch am Klavier. Ich bin keine gute Pianistin, aber das geht. Jeden Tag viele Stunden, wenn ich ein Klavier finde. Und ich will alles wissen: Warum hat er zu diesem Wort diese Note geschrieben? Warum ist hier ein pizzicato, warum passiert etwas dreimal? Was bedeutet dieser Tempel, wo ist er, wie kann man ihn sich vorstellen?“ Ganz am Anfang hat sie Aufnahmen gehört. „Die von René Jacobs ist mir sehr nahe, aber ich kann auch viel von James Levine lernen, der es völlig anders macht.“

Sie lernt gern, und neben Harnoncourt bewundert sie auch Christian Thielemann – sein Klangsinn hat sie umgehauen, als sie in Berlin Bruckners Fünfte unter seiner Leitung spielte. Da sie viele Maestri als Geigerin erlebt hat, erkennt sie als Gastdirigentin oft die Spuren, die die hinterlassen haben. Etwa Charles Mackerras, der lange das Scottish Chamber Orchestra leitete. „Es ist tricky, wenn man einen anderen Klang möchte. You have to ask for what you want.“ Abends, im gut versteckten, randvoll besetzten, akustisch knochentrockenen Saal der Schule am Fuße der Highlands, sind Karina Canellakis und das schottische Ensemble ein Herz und eine Seele. Mit unaufwendigen, klaren, sensiblen Bewegungen formt sie für die Solistin in Mendelssohns Violinkonzert, für die Konzertmeisterin Stephanie Gonley, die empfindsamste Umgebung, die sich denken lässt.

Es ist hier kein Violinkonzert. Es ist eine gemeinsame poetische Erkundung, mit größter Flexibilität des Tempos, ein Nachdenken, Singen, Träumen bis an den Rand selten gehörter Abgründe. Der Komponist schützt uns mit feinem Handwerk davor, hineinzustürzen, und auch die filigrane Konstruktion wird deutlich. So intim wird dasselbe Stück kaum wirken, wenn sie es demnächst mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra musiziert. Das Melancholische im Schönen klingt noch nach, als ich abends um halb zehn an der North Deeside Road auf den Bus Nr. 19 warte. Und das rasende, an Sarkasmus grenzende Finale von Beethovens Vierter, dirigiert von einer, die keine Faust ballen muss, um Attacken zu entfesseln. Eine gelernte Geigerin kennt da halt bessere Tricks.

Dieser Text erschien im MAG 51, dem Magazin des Opernhauses Zürich, September 2017, und ist urheberrechtlich geschützt. Foto: Styriarte