“Zuerst wollte ich sobald wie möglich wieder weg aus Paris”

devielhe

Wie aus einer normannischen Cellistin ein europäischer Koloratursopran wurde: Sabine Devieilhe erzählt in der Rue Richelieu von ihrem Weg zu Lakmé, Mélisande und, last not least, zur Regimentstochter

Ein lichtgrauer Novembervormittag in Paris, Rue Favart, Künstlereingang der Opéra comique. Im Vorgängergebäude, das 1887 abbrannte, wurde noch zu Donizettis Lebzeiten oft seine Fille du Régiment gespielt, mit ihrer aberwitzigen Titelpartie, die auch heute nur wenige bewältigen. Eine dieser wenigen steigt jetzt aus einem Auto: Sabine Devieilhe, der shooting star der französischen Koloratursoprane, blond, zierlich, freundlich, 31 Jahre. Der Wagen rollt davon; sie schlägt das Bistro gegenüber vor. Aber da wird noch saubergemacht. Ein paar Schritte runter auf der Rue St. Marc, in Richtung jener Salle du Bourse, in der La Fille anno 1840 uraufgeführt wurde, zur Rue Richelieu. Egal, wohin man sich wendet im 2. Arrondissement – überall ist Musikgeschichte drin.

Trotzdem ein schöner Zufall, dass Madame Devieilhe zielstrebig die Rue Richelieu Nr. 96 ansteuert, ein hohes altes Eckhaus mit einem Café. „Wissen Sie, dass Berlioz hier wohnte?“, sage ich. „Nein“, antwortet sie erstaunt, was kein Wunder ist – man hätte viel zu tun, wollte man an allen noch existierenden Adressen berühmter Pariser Musiker Plaketten anbringen. Hier würde es sich allerdings lohnen, immerhin komponierte Hector im Dachgeschoss seine Symphonie fantastique. „Sind Sie sicher?“, sagt sie, „haben Sie mit ihm telefoniert?“ „Ja, Boulez hat mir seine Nummer gegeben…“ Sie lacht, und dann bestellen wir in Nr. 96 einen außergewöhnlich schlechten Capuccino, der kalt wird, während sie erzählt, wie es ihr mit der Regimentstochter ergeht.

„Ich bin froh, dass sie für Paris geschrieben wurde. Marie singt französisch, das bringt sie mir ein bisschen näher! Aber man muss im Kopf behalten, dass es italienische Musik ist und auf der Linie gesungen werden muss.“ Was heißt das? „Dass der Text sozusagen in der Melodie gehört werden kann, so dass man ihn auch versteht, wenn man die Sprache nicht kennt. Aber Marie spricht ja auch, und das ist für mich eine Herausforderung, obwohl es meine Muttersprache ist. Es ist immer schwierig, vor dem Singen zu sprechen!“ Warum ist die Partie so gefürchtet? „Marie ist fast die ganze Zeit auf der Bühne, man muss lange die Spannung halten. Sie muss lustig sein, das ganze Regiment leiten und manchmal wie eine Trompete klingen, schon in der ersten Arie. Es ist eine Mischung aller Farben, die es für meinen Typ Stimme gibt. Mit genug hohen Tönen…“

Berlioz, der anno 1840 in der Uraufführung war, hielt nicht viel von dem Stück. „Das ist Musik, wenn man so will, aber keine neue Musik“, spottete er. „Das Neue war“, meint Sabine Devieilhe, „dass ein weiblicher Charakter hunderte von Männern anführte. Besonders die italienische romantische Musik wurde oft zu Libretti à l´eau de rose geschrieben, wie Rosenwasser, sehr süßlich, zu süß! Aber diese Geschichte hatte etwas Neues, dazu noch die hohe Stimme einer Sängerin, die auch Dialoge spricht.“

Sie sang schon als Kleinkind den ganzen Tag

Die hohe Stimme machte sich bei Sabine Devieilhe sehr früh bemerkbar. „Schon als Baby“, sagt sie und lacht. „Ich glaube, meine Eltern wussten von Anfang an, dass ich Koloratursopran bin. Ich sang den ganzen Tag. Sie waren Melomanen und mochten Musik, aber als Laien, sie spielten kein Instrument. Sie schickten mich und meine drei Schwestern zur Musikschule. Das war bequem in unserer kleinen Stadt, denn die Musikschule lag sehr nah an der Schule. Es machte Spaß, denn meine Eltern übten kein bisschen Druck aus. Sie haben einfach immer unterstützt, was ich tun wollte, das hat mein Selbstvertrauen enorm gestärkt. Ich spielte Cello, weil ich das liebte, dann kam ich auch in den Chor. Und da war sofort sehr klar für jeden, dass ich ein sehr hoher Sopran war.“

Ifs heißt das Städtchen in der Normandie, wo ein flämischer Name wie Devieilhe (ausgesprochen wie „Dewielle“) eher selten ist. Im nahen Caen ging Sabine dann aufs musische Gymnasium, „da spielte ich Cello im Orchester und im Quartett und sang im Chor, aber ich wusste immer noch nicht, in welche Richtung das gehen könnte.“ Das erfuhr sie erst, als sie nach ihrem bacalauréat, dem Abitur, zum Musikstudium in die Bretagne zog, nach Rennes. „Der Chorleiter dort sagte, ich würde dir gern etwas Solistisches geben, aber dafür musst du Gesangsunterricht nehmen.“ Der fand statt bei einer „typischen Diva“, einer Opernsängerin, die den Schatz erkannte, der ihr da in den Schoß gefallen war. „Nach drei Jahren sagte sie, du musst nach Paris, ans Conservatoire!“

Sie gab ihrer Studentin einen Umschlag voller Empfehlungen und eine Liste all der Stücke mit, „die gut für mich waren“, und nun wurde es ernst. „In Rennes hatte ich das Studentendasein genossen, Paris war der Beginn meines professionellen Lebens. Ich hatte ein winzig kleines Zimmer an der Place de la République und nahm morgens immer ziemlich früh die Metro, um in einem Studio des Conservatoire zu arbeiten. Da gibt es eine gigantische Bibliothek mit allen Partituren, die man sich nur erträumen kann. Ich schaute da auch nach, in welchen Opern ich meine Stimme über dem Orchester behaupten könnte. Meine Erfahrung auf dem Cello half mir dabei. Es ist wichtig zu wissen, was hinter der Stimme noch passiert, wieviel Kraft ich in einer Note geben muss.“

Noch während sie studierte, hatte sie schon einen Vertrag als Lakmé für die Zeit danach: “Als französische Koloratursopranistin denkt man sowieso dauernd an diese Rolle!“ Aber auf eine leichte Stimme, die es mühelos zum hohen e der Glöckchenarie in Lakmé, zum hohen f der Königin der Nacht schafft, muss man besonders gut aufpassen. „Ich habe bei Anfragen sicher öfters nein als ja gesagt.“ Das tat die Sängerin auch, als vor fünf Jahren das Label Erato an sie herantrat. „Der erste Vorschlag von denen waren französische Opernarien, wie ich sie jetzt gerade aufgenommen habe. Aber da war das noch zu früh für mich.“ Sie bestand auf Musik von Jean-Philippe Rameau.

Zum einen hatte sie Arien des spätbarocken Operngenies bereits als Cellistin auf barockem Instrument begleitet und war vertraut mit der Aufführungspraxis. Zum andern hatte Alexis Kossenko, Flötist und Gründer des Barockensembles „Les Ambassadeurs“, sie für Rameau begeistert. Mit ihm entstand „Le Grand Théâtre de l´Amour“ – eine Kompilation zum Süchtigwerden. Inzwischen lässt sie sich, auf der neuen CD „Mirages“, auch als Debussys Mélisande hören, begleitet von François-Xavier Roth und seinem Orchester „Les siècles“, bleibt aber wachsam: „Wo der Orchestergraben größer wird, muss ich vorsichtig sein. Ich kann Mélisande an einem kleinen Haus wie der Opéra comique machen, wo Pelléas ja uraufgeführt wurde. Aber ich kann das nicht mit acht Kontrabässen!“

Sie redet so bescheiden über sich, als wolle sie den Übermut tarnen, den man in ihrer Singstimme funkeln hört, und den Witz, den sie im wohl coolsten hidden track der Klassik bewies, auf „Mozart – The Weber Sisters“. Was der zuerst in Aloysia verliebte, dann mit Constanze verheiratete Mozart für die drei Sopranschwestern schrieb (Josepha war seine „Königin der Nacht“), macht Sabine Devieilhe zum Biopic auf höchstem Niveau. Nachdem aber das Et incarnatus für Constanze verklungen ist, stimmen die Solistin und das ganze Orchester „Pygmalion“ Mozarts Kanon Leck mich im Arsch an, um ihn, mit blitzenden Koloraturen, ins Finale der Jupitersinfonie zu morphen. Man muss gehört haben, mit welcher Raffinesse sie diese krasse Zote singt: In perfektem Deutsch, aber so genießend gewitzt, wie es wohl nur eine Pariserin kann.

Eine solche ist sie inzwischen. „Zuerst wollte ich so bald wie möglich wieder weg, mir war hier zu viel Rummel.“ Dann kam der Terror im November 2015. Sie empfand das als Angriff „auf uns, die Freiheit, die Kunst“. Und sie war ergriffen von der Atmosphäre, die Tage später bei einem Auftritt in der neuen Philharmonie herrschte, mit Bachkantaten. „Das Konzert war magisch. Keiner hatte sich mit dem Entschluss leicht getan, zu kommen. Jeder wusste, warum er da war.“ Vielleicht hat auch das ihr die Stadt ans Herz wachsen lassen. Inzwischen wohnt sie hier mit ihrer Familie und liebt das kulturelle Angebot, „obwohl ich dafür als Mutter nicht mehr ganz so frei bin. Mein Kind ist vorige Woche ein Jahr alt geworden. Paris hat sich nicht so geändert, aber ich!“

Dieser Text erschien geringfügig kürzer im MAG 54, dem Magazin der Oper Zürich, November 2017, und ist urheberrechtlich geschützt. Die konzertante Aufführung der “Regimentstochter” hat in der Oper Zürich am 16. Dezember 2017 Premiere.