„In Ljubljana kann man zwischen die Dinge gehen“

Milko Lazar hat für Zürichs Oper den „Faust“ zur Tanzmusik gemacht. In seiner Heimatstadt bin ich mit dem Jazzsaxophonisten, Barockcembalisten und Komponisten durch die Läden gezogen. Gustav Mahler war vor uns da.

Er muss es sein, der gedrungene Typ mit Wollkappe auf dem Kopf, wie ein Streetworker wirkend inmitten all der Leute, die Fluggäste abholen. Er passt in keins der hier vertretenen Kollektive. Und woran Milko Lazar mich so schnell erkennt? Vielleicht sehe ich ja exakt so aus wie ein Journalist, der für einen Abend nach Ljubljana fliegt. Es ist das erste Mal, dass ein Komponist persönlich mich abholt zum Interview. Nicht, dass andere Tonsetzer ungastlich wären, aber slowenische Gastfreundschaft ist ein Kapitel für sich. Der Mann ist extra zum Flughafen gefahren, obwohl er wirklich mehr als genug zu tun hat, und bugsiert uns direkt in die karfreitäglich brodelnde Altstadt am Fluss. Es sieht da aus, als wäre man in Österreich, nur mediterraner, mal verwinkelt, mal großzügig.

Da wohnt Milko Lazar, mit seiner Frau, die Kindertheater mit Marionetten macht, wofür er auch komponiert, und der zehnjährigen Tochter, die er an diesem Abend per Smartphone bei Laune hält. Auf der Fahrt haben wir schon über das Zürcher Faust-Ballett gesprochen, über den Weg von ersten Ideen rund um Bulgakows Roman bis hin zu Goethes Faust Eins in 24 Szenen, „aber nicht narrativ, nicht die exakte Story. Manchmal nah an der Geschichte, manchmal eine eigene Richtung.“ Komponiert mit Software von Sibelius und dem NotePerformer, der den Orchesterklang so extrem realistisch simuliert, dass Choreograph Edward Clug schon damit proben kann. Wobei der von den ersten Skizzen „nur Teile“ gut fand, wie Milko Lazar erzählt, lachend im Rückblick auf gar nicht wenige Diskussionen. „Er ist sehr willensstark, wie ich auch… “
Milko-Lazar

Das Bier kommt in kultiger Packpapierhülle auf den Tisch, draußen in einem der vielen Cafés auf dem Pflaster der Uferpromenade, wo es von Studenten und Ostertouristen wimmelt – auch hier könnte Goethes Faust in moderner Version beginnen. Wie er in so eine Komposition einsteigt? „Zuerst muss ich die Atmosphäre finden, dann suche ich nach dem Klang, den ich hören will.“ Da ist er aber auch ganz pragmatisch. „Ich nehme das klassische Orchester, wie es ist, nicht mit sechs Fagotten oder solchen Extras, das wäre nicht ökonomisch und nicht fair. Ich war lange selbst in einem Orchester, ich weiß, wie es ist, wenn man mit einer verrückten Idee ankommt.“ Exotisch ist diesmal nur das Cembalo, flämisch, zweimanualig, ganz leicht verstärkt, modern gestimmt: „Das ist neo-neo-barock mit ein paar Ostinatos, eine sehr interessante Farbe.“

Und damit ist er eigentlich schon ganz bei sich selbst. Denn Milko Lazar hat zwar jahrelang als Jazzsaxophonist in der Big Band von Radio Slovenia gespielt und auch für sie geschrieben, mittendrin aber auch Cembalo studiert, bei Ton Koopmans Schüler Patrick Ayrton in Den Haag. „Das hat meinen Horizont erweitert, und über das Cembalo bin ich auch zum Komponieren gekommen. Erst mit dreißig fing ich an, für kleine Ensembles und dann auch für Orchester zu schreiben. Als Komponist bin ich spät dran!“ Er lacht schallend mit seiner herben Cowboystimme – dieser Spätstarter hadert nicht mit seinem Werdegang. Aber wie kommt einer dazu, Jazzsaxophon und Barockcembalo – von Froberger über Bach und Scarlatti bis zu Rameau – mit gleicher Leidenschaft zu spielen?

Milkos Eltern in Maribor, wo er 1965 zur Welt kam, waren Amateurmusiker, sein Vater ein Wirtschaftswissenschaftler. „Er spielte Akkordeon und Zither, meine Mutter sang und spielte Gitarre. Traurige Lieder über Liebe und Leben, wie sie von Zagreb bis Belgrad in den Kellerlokalen gesungen wurden, das sind meine frühesten Erinnerungen. Mit sechs Jahren bekam ich ein Klavier. Mein Vater setzte sich dran und spielte los, das werde ich nie vergessen. Er hatte seit Jahren kein Klavier mehr angerührt und spielte Arpeggios rauf und runter, ein Naturtalent, und ich dachte, aha, so einfach ist das!“ Das Klavier war ein Wiener Flügel der Firma Ehrbar von 1895, zwei Meter zwanzig lang mit lederbezogenen Hämmern, „ich habe also schon auf einem historischen Instrument angefangen!“

Milko war neugierig und stopfte Papier zwischen die Saiten, um den Klang zu verändern, und nachdem er so, ohne je von John Cage gehört zu haben, das präparierte Klavier neu erfunden hatte, bastelte er sich, mit Hilfe von zwei Cassettenrecordern, auch noch minimal music. „Ich hatte großes Interesse an Klängen, so kam ich auch zum Cembalo.“ Doch vorher begeisterte seine große Schwester ihn für Pink Floyd, dazu kam Jazz. Mit siebzehn zog er nach Graz und studierte Klavier, Jazzklavier und Saxophon – „das ausdrucksstärkste aller Holzblasinstrumente!“ 1986 ging er in die Big Band in Ljubljana, zehn Jahre später als Cembalostudent nach Den Haag. Da entdeckte er durch Patrick Ayrton „die totale Freiheit des Ausdrucks bei zugleich sehr strengen Regeln.“

Diese Disziplin habe ihn dazu gebracht, seine Improvisationen am Cembalo zu notieren. Es folgte Musik, in der all seine Quellen zusammenkamen, mal für Streichtrio, mal für Saxophonquartett, vieles für zwei Klaviere, von ihm und Bojan Gorišek gespielt, einem Experten für Satie, Ives, Crumb, Philipp Glass. Es sind oft motorische, witzige, klare Stücke irgendwo zwischen Arvo Pärt und Steve Reich, und in einem Cembalokonzert scheint sich Bach, den er verehrt, mit Rachmaninow zu treffen. Auch der kosmopolitane, aufmüpfige Geist von Ljubljana klingt oft an. „Es gibt hier eine Kultur von radikal anderen Herangehensweisen“, meint Milko Lazar. „Ljubljana ist ein guter Ort, um zwischen die Dinge zu gehen. Ich fühle hier Kontakt mit der ganzen Welt. Okay, Berlin ist auch schön, aber da ist so viel los, dass man konfus werden kann.“

In Ljubljana kam der Choreograph Edward Clug nach einem Konzert zum Komponisten und schlug ein Projekt vor. Prêt-á-porter für zwei Klaviere und acht Tänzer war der Beginn ihrer Zusammenarbeit, bald auf internationalem Level, 2012 erstmals für die Oper Zürich. In seiner Heimat war Lazar inzwischen auch als Orchesterkomponist gefragt. Mit Deimos & Phobos schrieb er 2014 ein sechzehn Minuten langes Stück von großer Bildkraft und soghafter Entwicklung, gar nicht so „modular“ wie viele seiner anderen Stücke. Aus dem d der Streicher entwickelt sich – für mich – eine apokalyptische Landschaft, man sieht einen ganzen Film vor sich. „Interessant! Ich wollte nur die simple Geschichte der beiden Marsmonde erzählen“, meint er. „Der eine wird irgendwann auf den Mars stürzen, der andere seine Gravitation verlassen.“

Selten habe er nach einer Uraufführung soviel Zuspruch erlebt, von ganz unterschiedlichen Leuten. Das ist ihm besonders wichtig: „Ich versuche als Komponist auch, Menschen zusammenzubringen.“ Übrigens wurde die Marsmondmusik in Zürich vollendet, „zwischen den Proben zu unserem letzten Ballett. Dauernd rief der Dirigent an, Pedro Halffter, und drängelte nach der Partitur!“ Solche Umstände scheinen ihn zu inspirieren. Er ist gern auf mehreren Baustellen unterwegs und kann auch beim Komponieren nicht so still sitzen wie jetzt. „Ich stehe auf, bewege mich, ich helfe mir, mit dem Körper all die Klänge zu fühlen… vielleicht hörte Edward das ja in meiner Musik. Wenn ich für Tänzer schreibe, habe ich die ganze Zeit auch die Bewegung im Kopf.“

Im Faust setzt er das modulare Komponieren fort, das ihn seit langem interessiert. „Die Anordnung der Fragmente kann den Hörer jederzeit an einen total anderen Platz katapultieren. Nicht das, womit man rechnet. Wir denken ja auch in Impulsen! Gehen wir noch ein Stück?“ Aus dem Restaurant, in das wir vom Café aus gewechselt sind, führt er mich in ein Gässchen auf der anderen Seite des Flusses: „In dem Laden da hat Gustav Mahler immer sein Bier nach der Probe im Theater getrunken!“ Mit 21 Jahren kam Mahler als Kapellmeister nach Laibach, damals eine Stadt in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Seine Bar in der Židovska ulica gibt es immer noch, sie heißt „Roža“, Blume.
Draußen sind alle Plätze besetzt, und das ist für zwei Raucher nicht so toll. Also trinken wir den finalen Wein auf einer beheizten Steinbank am Novi trg, dem Neuen Platz. „Was mir noch wichtig ist“, meint er, „ich habe nie nach einer bestimmten Ästhetik gesucht. Es ist immer alles so auf mich zugekommen.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien geringfügig kürzer im MAG 58, dem Magazin der Oper Zürich, April 2018. Das Ballett „Faust“ wird am 28. April in der Oper Zürich uraufgeführt.