Leipziger Tetralogie III: Terzenrufe, Vierteltöne und B-A-C-H

Im „Orwell-Jahr“ 1984 war das Neue Gewandhaus erst drei Jahre alt, und Pianist Wladimir Krainev spielte die Leipziger Erstaufführung von Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher mit größter Intensität

Kurz vor der Mitte des Stücks beginnt etwas Magisches. Die ersten Geigen haben noch schnell ein harsches Zischen von sich gegeben, am Steg gespielt, und gesellen sich zu den zweiten in einen langen, kaum hörbaren Triller, während ein einzelner Kontrabass gelassen Viertelnoten zupft, walking bass. Der Pianist macht sich nun wie improvisierend auf die Suche. Ganz weit oben beginnend, auf dem höchsten Gis, das ein Flügel überhaupt bietet, nur die rechte Hand, sanft hinab, halb taumelnd, halb schwebend, mal Bewegungen so jäh wie die von Fischen, die im Wasser wenden, mal versonnene Triolen, neue Ansätze, keine Tonalität, alles frei, jazzig, unberechenbar. Der Kontrabass liefert dabei sein Metrum als geerdeter Partner, nicht als ordnendes Gegenüber. Die linke Hand kommt dazu, Verdichtung, Reaktionen der Streicher, die Freiheit bleibt.

Es gibt wohl keine Aufnahme von Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher, in der das magische Filigran dieser 20 Takte inmitten vieler Attacken, Schnitte, Verstörungen, Zerstörungen auch, so intensiv und intim zu hören ist wie im Mitschnitt aus dem Leipziger Gewandhaus vom 13. Dezember 1984. Ein Grund dafür ist, dass am Flügel eben jener Wladimir Krainew sitzt, für den Schnittke das Stück geschrieben und der es 1979 in Leningrad auch uraufgeführt hat. 1944 in Krasnojarsk geboren, am Moskauer Konservatorium Schüler des legendären Heinrich Neuhaus, ist Krainev mit allen Wassern der romantischen Klavierliteratur gewaschen, aber gerade aus dieser Tradition heraus neugierig auf deren Fortsetzungen im 20. Jahrhundert. Mit Ernst und zarter Emphase spielt er schon die einsamen Terzrufe, c-Moll, Ces-Dur, mit denen das Werk beginnt.

Er spielt sie in Leipzig nicht vor vollem Haus. „Überraschend viele Anrechtsplätze“, bedauert die Tageszeitung Union, sind leer geblieben – was von einer gewissen Angst, wenn nicht gar Arroganz gegenüber neuer Musik zeugt, wenn man bedenkt, dass Abonnements ein Privileg und die 1900 Plätze sonst dauernd ausgebucht waren. Allerdings stellte Gastdirigent Dmitri Kitajenko auch nach der Pause kein Repertoire, sondern eine Rarität vor, nämlich das Göttliche Poem von Alexander Skrjabin. Alfred Schnittke musste den Leipzigern nicht mehr vorgestellt werden: Schon im November 1981 hatte das Gewandhausorchester seine 3. Sinfonie uraufgeführt, knapp einen Monat nach der Eröffnung des Neuen Gewandhauses. Wer sich also der DDR-Erstaufführung von Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher nähert, dem geraten nicht nur Musiker und Komponist in den Blick, sondern auch ein außergewöhnlicher Neubau, der seither so wenig Patina angesetzt hat wie Schnittkes Musik. Das will nach fast vier Jahrzehnten etwas heißen.

Zum Silvester 1983 hatte man im Westen in behaglichem Zynismus aufs „Orwell-Jahr“ angestoßen, während der Roman 1984 in den sozialistischen Ländern zur Pflichtlektüre der „Dissidenten“ gehörte. Auch Alfred Schnittke hat mit diversen big brothers, wechselnden Machthabern eines totalitären Regimes, seine Erfahrungen gemacht. Zuerst nicht die schlechtesten, denn seine letzten Moskauer Studienjahre und die ersten als freischaffender Komponist fielen in die Zeit von Nikita Chruschtschows „Tauwetter“ bis 1964. Dem folgte freilich ein langer Winter unter Leonid Breschnew, in dem es schon ein Lichtblick war, dass Schnittkes erste Sinfonie, eine grelle Collage aus Musik aller Zeiten und Stile, überhaupt uraufgeführt werden konnte – 1973 im weit abgelegenen Gorki. Achtzehn Jahre lang herrschte Breschnew, und als er 1982 starb, war da immer noch Tichon Chrennikow, eisenharter und zählebiger Musikfunktionär von Stalins bis zu Gorbatschows Zeiten, der dafür sorgte, dass Schnittke – auch wenn er gelegentlich in den Westen reisen durfte – bis 1984 für neunzehn Uraufführungen seiner Musik keine Reiseerlaubnis bekam.

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Im Westen gefeiert: Alfred Schnittke 1988 beim Aldeburgh Festival, hier mit der Skulptur von Barbara Hepworth in Snape. Quelle: Youtube

In Moskau hielt er sich als Filmkomponist über Wasser, zu siebzig Filmen hat er die Töne geliefert. Darin sah er für sich auch „Möglichkeiten zu einer Weiterentwicklung“. Das angewandte Genre und die Musik für den Konzertsaal scheinen sich gegenseitig beeinflusst zu haben. Als Schnittke das Klavierkonzert komponierte, entstand auch seine Musik zum Film Kleine Tragödien, in der man Walzer und Polka, einen Lieder-Marsch und eine Barcarole findet. Solche „trivialen“ Formen gibt es ebenso im Klavierkonzert, hinter ihnen aber auch den, der sie für das „ernste“ Komponieren wie kein anderer nobilitierte. Gustav Mahler, erklärt Schnittke in einem Interview 1984 , sei für ihn eine „Zentralfigur“, seit er seine polystilistische Denkweise entwickelte, „weil er es ähnlich wie Tschaikowsky, aber noch viel kühner, gewagt hat, über den Purismus in Ästhetik und Technik hinwegzuschreiten. (…) Ich wünschte mir sehr, viel Gemeinsames mit ihm zu haben. Doch für mich ist Mahler eine derart große Figur, daß ich es nie wagen würde, mich an ihm zu messen.“

Man findet Mahler bei Schnittke zwar als Schutzpatron stilistischer Vielschichtigkeit, aber nicht als Stilzitat – anders als etwa Tschaikowsky, auf dessen satten Streichersound die erste große Steigerung im Klavierkonzert zuläuft – Schnittke spricht da auch von „Sonnenaufgangsfetzen orthodoxer Kirchenmusik“ : breite Akkordstufen im „Maestoso“ münden (weitgehend) in C-Dur, um vom Solisten sofort mit dissonanten Achtelschlägen angegangen zu werden. Das klingt brutal, aber gut: klar und nicht zu trocken.

Immerhin befindet man sich hier in einem der besten Konzertsäle nicht nur der DDR. An gut zwei Sekunden Nachhallzeit in einem Saal mit 1900 Plätzen haben vier Akustiker gemeinsam mit vier Architekten um Rudolf Skoda getüftelt, wobei sie für akustische Tests bei voller Auslastung auch NVA-Soldaten einsetzen konnten. Gleichwohl grenzt es an Wunder, dass das Neue Gewandhaus, dieser einzige Neubau eines Konzerthauses in der DDR, nach fünf Jahren Bauzeit am 8. Oktober 1981 eröffnet werden konnte. Spätestens 1978 wurde auch die DDR von der weltweiten Stahlkrise betroffen, und da die Regierung ein Wohnungsbauprogramm vorantrieb, fehlte es am Stahlbeton für den außergewöhnlichen Bau am Karl-Marx-Platz, mit dem „die seltenen Möglichkeiten zu einer anderen Architektursprache jenseits der profanen Massenproduktion“ ausgeschöpft wurden – so konstatierte es 30 Jahre später mit größtem Respekt die fachlich maßgebende Deutsche Bauzeitung.

„Wäre er nicht gewesen, gäbe es das Ding nicht“, sagte Architekt Rudolf Skoda über Kurt Masur , obwohl es ihn hätte grämen können, dass er bei der Eröffnung in den Schatten des Gewandhauskapellmeisters geriet und „meistens ohne Namen erwähnt wurde“, wie der Architekturkritiker der ZEIT im November 1981 monierte. Dem wurde sein Engagement allerdings schlecht vergolten: Tief getroffen reagierte Manfred Sack, als er 2011 erfuhr, dass Skoda auch Stasi-IM war. Ob das der Preis für das Gelingen des Bauwerks war und umgekehrt den Bau gleichsam „kontaminiert“ hat? Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Moral ist in jetzigen „metoo“-Zeiten so aktuell wie lange nicht. Masur jedenfalls hatte Skoda mit auf Reisen zu den besten Sälen der Welt genommen, in denen das Orchester gastierte und Devisen kassierte, und er hatte der Politik stets Druck gemacht, wenn Baustoffe fehlten. Nicht nur den Orkan, der im Juni 1984 über Leipzig fegte, hat das Haus gut überstanden. Und im großen Saal mussten bis heute nur die Sesselpolster ausgetauscht werden.

Auch wenn etliche dieser Sessel am 13. Dezember 1984 leer bleiben, ist es ein großer Abend, wie man dem Mitschnitt anhört. Die Ereignisdichte von Schnittkes 23 Minuten langer Komposition wird von Wladimir Krainew und dem Gewandhausorchester unter Kitajenkos Leitung nicht exekutiert, sondern gestaltet. Da folgt der kurzen, heftigen „Tschaikowsky“-Passage eine kurvenreiche (bis auf das h vollständige) Zwölftonlinie der ersten Geigen und dieser nach kurzem Zwischenspiel ein Verschwimmen in Vierteltönen, ohne dass man den Eindruck hätte, hier werde von einer Ebene zur nächsten gesprungen. Es ist ein Sog darin, in dem Kitajenkos suggestives Dirigat und Krainews sensibles Spiel zusammenkommen. Er geht nicht analytisch an seinen Part wie später etwa Marc-André Hamelin. Er verfällt auch nie dem Reflex, ein Stilzitat ironisch anzugehen. Wenn die Linke Achtel in E-Dur spielt und die Rechte Triolen in Des-Dur, träumt er wie Rachmaninow und gestaltet die letzten drei Töne dieses Abschnitts als liebevolles ritardando. Das steht so nicht in der Partitur, ist in ihr aber angelegt. „Quasi-Zitate“ nennt der Komponist so etwas, „die wie Zitate scheinen, aber keine sind. In allen Fällen ist es eine Zulassung von eigener Musikwelt und gespiegelter, objektiv existierender Musikwelt.“

Die Figur der drei ansteigenden Achtel, hier noch Übergangsfloskel, wird später im Stück zur Aussage geadelt, überhaupt geht kein Motiv verloren. Den Terzrufen des Anfangs begegnen wir wieder – sie haben ein geradezu romantisches „Schicksal“ -, der russischen Emphase, den Begleitachteln. Wer annimmt, Schnittke habe hier nur eine Collage vorgelegt, „buntscheckig“, wie das Sächsische Tageblatt mäkelt, unterschätzt sein Formbewusstsein und seinen Furor. Das wird schon deutlich, wenn über einem Kanon der Bässe die Terzrufe in den Geigen aufblitzen. Im Klavier krönen die Terzen dann eine der mitreißendsten Rennstrecken der Konzertliteratur. Als „falsche Prokofjew-Aktivität“ bezeichnet der Komponist in einem Kommentar diese 55 Takte, in denen Motorik mit rasenden Dreiklangsbrechungen, hämmernden Achteln, Off-Beats auf die Spitze getrieben ist, jeder Eleganz entkleidet, aber perfekt verschränkt mit dem Terzmotiv – es wird von der Frage zur Forderung. Das ist nicht falscher Prokofjew, sondern Schnittke, ganz bei sich selbst.

Natürlich kann nur nach diesem Ausbruch im stampfenden Vierertakt das genaue Gegenteil folgen, das freie Schweben der Klavierstimme über dem Zupfen des Kontrabasses und dann dem der hohen Streicher. Dass der Komponist diese wunderbare Erfindung in seinem Kommentar als „Blues-Alptraum“ bezeichnet, zeigt, dass Worte zur Musik selbst (oder gerade) dann mit Vorsicht zu genießen sind, wenn sie von den Komponisten selbst kommen. Freilich kann man diese Passage auch anders spielen – gespannt wie Ksenia Kogan, metrisch penibel wie Marc-André Hamelin, tändelnd wie Daniil Trifonov. Interessanterweise ist auf Youtube auch eine weitere Aufnahme mit Krainew aus demselben Jahr 1984 zu finden, begleitet vom Litauischen Kammerorchester – mit viel zu lauten Streichern in halliger Akustik. Der Leipziger Mitschnitt ist zwar nur eine „Informationsaufnahme“, aber er hat noch heute, da rund ein Dutzend Einspielungen des Konzerts auf CD lieferbar sind, das Zeug zur Referenzaufnahme. Dahinter stecken anderthalb Dutzend Mikrofone im Saal und ein hauseigenes Tonstudio nebst festangestellten Tonmeistern, die alle Konzerte im Saal ausgesteuert mitschnitten.

Die Mischung aus Hochspannung, Intensität und visionärer Unberechenbarkeit in diesem Mitschnitt passt durchaus ins „Orwelljahr“. Das Verhältnis zwischen den Großmächten war (auch dank Ronald Reagans US-Präsidentschaft) auf einem Tiefpunkt. Neunzehn Ostblockländer hatten 1984 die Olympischen Spiele in Los Angeles boykottiert. Im Februar war Breschnews Nachfolger Juri Andropow nach kurzer Amtszeit gestorben – sein Protégé Michail Gorbatschow rückte nun auf zum zweiten Mann im Zentralkommittee der KPdSU, dessen neuer Generalsekretär Konstantin Tschernenko schon alt und krank war. Die SED in der DDR sah sich einer derartig wachsenden Zahl von Ausreiseanträgen gegenüber, dass sie 40.000 Bürger in den Westen ließ. Im Rückblick zeichnen sich da schon die historischen Veränderungen ab, in deren Folge Alfred Schnittke 1990 als Kompositionsprofessor nach Hamburg zog und Vladimir Krainew als Klavierprofessor nach Hannover, während das Neue Gewandhaus zum Forum einer unblutigen Revolution geworden war.

Das Klavierkonzert nimmt einen anderen Weg. Dem „Blues“ folgt ein Walzer in zunehmender Brutalität, in dem sich die Terzrufe zu aggressiven Clustern ballen. Letztmals erscheinen sie in der Solokadenz danach, zu Dezimen auseinandergezogen, wie ferne Sterne, dann bricht, um es verkürzt zu sagen, Chaos aus und mündet in einen sanften A-Dur-Dreiklang wie in ein Jenseits, für das bei Alfred Schnittke in der Musik ein Protestant zuständig ist: „Bach bildet für mich den Mittelpunkt von allem“, hat er später erklärt und schon früh signalisiert. In seiner Violinsonate von 1963 findet man B-A-C-H versetzt nach C-H-D-Cis, und genau das ist hier in den Bratschen zu hören, danach mit E beginnend im Cello, schließlich vom Es aus im Klavier. Am Ende steht galaktisches Verklingen – Flageolett der Streicher, ein leise repetiertes höchstes Fis am Flügel. Und anhaltend heftiger Applaus im Neuen Gewandhaus, der nach knapp drei Minuten nur versiegt, weil Krainew eine Zugabe spielt.

Dieser Text erschien im Gewandhaus-Magazin Nr. 99, im Frühjahr 2018, und ist urheberrechtlich geschützt. Der Sammelbegriff “Leipziger Tetralogie” wurde für diese Website hinzugefügt.