„Ich würde Jochanaan selbst gern töten“

Als Salome in Salzburg wurde Asmik Grigorian über Nacht zum Weltstar. Was war da los, was war davor, was kommt? Eine Begegnung

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Sie sitzt auf dem Schoß des nackten Enthaupteten, umklammert verzweifelt zärtlich den Rumpf, den Kopf an die Stelle gelegt, wo vor kurzem noch der Kopf des Jochanaan war, und singt – langes Ais – das erfüllteste, glühendeste „nichts“, das man je gehört hat: „Auf der ganzen Welt war nichts so rot wie dein Mund“, und die Töne sind eins mit allem. Was hier geschieht, kann nur so geschehen. Da ist nur noch diese junge, zierliche Frau im weißen Kleid, die aus Liebe den Tod herbeigeführt hat. Das Gesicht nur noch Schmerz, die Töne Existenz, uns alle treffend, hinweg über dreißig Bläser, Celesta, zwei Harfen, neunzig Streicher, über das ganze Wissen und Nichtwissen der Welt. Und die Welt ist anders danach. Nicht nur die Opernwelt, nicht nur die Welt von Richard Strauss´ Salome.

Mit den Schlusstönen der biblischen Prinzessin begann im vorigen Sommer in Salzburg ein Triumph, der das Klischee vom Weltruhm über Nacht bestätigte. „Ich verstehe immer noch nicht, was da passiert ist“, sagt sie jetzt. „Es fühlt sich seltsam an. Da kommen auch Ängste hoch.“ Asmik Grigorian, 37 Jahre alt, nackenkurze schwarze Haare, helle Augen, sehr konzentriert, sitzt im Bunker, einer Weltkriegsfestung an der Hamburger Feldstraße, heute ein Kreativzentrum. Gerade hat die Litauerin dort für ihr Elbphilharmonie-Debüt geprobt. Seit ihrer Salome ist sie eine der gefragtesten Sopranistinnen überhaupt.

In Salzburg traf sich das grundstürzende Bilderdenken des Regisseurs Romeo Castellucci mit einer Rollendebütantin, in deren Stimme, Erscheinung, Gestaltung alles zusammenschoss, das Erotische, das Kultische, das Gegenwärtige – und der Traum des Komponisten Richard Strauss von einer Sängerin, die den Körper einer Siebzehnjährigen und die Stimme einer Isolde hat. „Ihre silbrige Stimme brennt in einer Weise, wie Eis brennen kann“, schrieb Jürgen Kesting. Diese Salome bestand mit äußerster Konsequenz und sinnlichem Selbstbewusstsein auf Liebe in einer finsteren, ausweglosen Männerwelt. Wer dabei war, taumelte erschlagen und erfüllt aus der Felsenreitschule.

Den Perfektionismus verdankt sie ihren Eltern

Inzwischen unterzeichnet Asmik Grigorian Verträge für 2024, nächste Saison debütiert sie an der New Yorker Met. Warum also Ängste? „Ich bin Perfektionistin“, sagt sie, als bekenne sie ein Handicap. „Ich weiß, dass ich nicht mit jeder Rolle denselben Erfolg haben kann, unmöglich.“ Angst vor dem Erfolg auch? „Wenn alle Kameras auf dich gerichtet sind, fängst du an, dir Sachen auszudenken, das ist nicht gut. Ich muss alles so machen wie vorher und wirklich an mir arbeiten, um damit klarzukommen.“ Und mit dem Perfektionismus, den sie ihren Eltern verdankt. Beide waren große Sänger.

„Besonders mein Vater war really big“, sagt sie. Gegam Grigorian, 1951 in Armenien geboren, debütierte als Tenor mit 27 Jahren an der Mailänder Scala und hätte da schon eine internationale Karriere starten können. Doch die Sowjetunion ließ ihn nicht reisen. Er ging ans Theater im litauischen Vilnius und lernte Irena Milkevičiūtė kennen, eine phänomenale Koloratursopranistin, bald darauf kam die Tochter der beiden zur Welt. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde Gegam im Westen berühmt, ein Jahrzehnt lang sang er auf den Bühnen der Welt. „Er trat in bester Form ab“, sagt Asmik stolz. „Erst nach seinem Tod habe ich es gewagt, zu sagen: Ja, ich bin eine Tochter von Gegam Grigorian.“ Er starb schon mit 65 Jahren, das hat sie sehr erschüttert. Und sie war berührt, dass sein Freund Placido Domingo die Salome besuchte.

Auch wenn Asmiks Weltruhm über Nacht kam – die überragende Technik besaß sie natürlich schon vorher und auch die Erfahrung, um 2017 als Marie im Salzburger Wozzeck zu überzeugen. Wobei ihre Technik keineswegs von früh auf gut war, trotz der Eltern. „Ich wurde sehr früh Mutter, mit 21. Ich musste für den Unterhalt sorgen und machte zu viel, nicht gut vorbereitet.“ Ihre erste Bühnenrolle war die Donna Anna im Don Giovanni, die zweite Violetta in La Traviata. „Wenn du ein großes Gewicht hebst, ohne zu wissen, wie, wirst du dich verletzen.“ Genau das ist passiert. Mit 30 hat sie ihre Stimme neu aufgebaut. Bis heute konsultiert sie jede Woche ihren Lehrer per Skype: alte italienische Schule.

„Besonders für Sopranistinnen ist es eine Herausforderung, dass wir eine Oktave über unserer Sprechstimme singen. Ich möchte soviel wie möglich vom natürlichen Stimmklang bewahren. Dass mehr Leute Popmusik mögen als Oper, hat auch mit den Stimmen zu tun. Wir müssen ohne Mikros einen Klang produzieren, der über das Orchester trägt.“ Das klinge schnell angestrengt. „Wenn du jemanden auf der Straße fragst, was ist Oper, dann… Ouououou“, sie parodiert ein kehliges, vibrierendes Jaulen. „Und das stimmt! Weil wir es so machen! Darum klingen auch so viele einander so ähnlich. Du brauchst dein eigenes Timbre, das macht dich besonders. Die alten Sänger, die guten, hatten das alle.“

Dafür allerdings wurde früher nicht jene schauspielerische Qualität gefordert, die so radikal erst das Regietheater mit sich brachte: „Die Oper brauchte diesen Wandel.“ Bei allem „Riesenrespekt vor den alten Sachen“ liebt Asmik Grigorian das Neue. Sie liebt es, festgefahrene Rollenklischees aufzubrechen, das Schwarz-Weiß, die Opfer, die Heldinnen. „Ich komme natürlich nicht in die Oper und denke, jetzt muss ich aber mal was ändern. Ich öffne die Partitur und fühle, wie ich fühle.“ Und das ändert alles. Neben ihrer Salome wurde klar wie nie, was für ein repressiver Typ der Prophet Jochanaan ist, dem Strauss so edle Klänge schrieb. „Er sagt entsetzliche Dinge“, findet sie. „ Selbst ich als Asmik würde den gern töten.“ Aber er klingt gut! „Das ist genau die Bigotterie. Es klingt gut, aber es ist bullshit.“

“Das acting with your voice verlieren wir gerade”

Gerade denkt sie vor allem über Schostakowitschs mörderische Lady Macbeth von Mzensk nach. „Vielleicht irre ich mich, aber ich denke, man könnte eine ganz andere Geschichte erzählen. Ich glaube, es kann lyrischer gemacht werden. Dabei folge ich den Möglichkeiten meiner Stimme. Ich versuche, so viele Farben wie möglich zu finden von denen, die ich habe. Du kannst nie die Rolle von deiner Stimme trennen. Es gibt viele gute Schauspieler in der Oper, aber das acting with your voice, das verlieren wir gerade.“

Grigorians Selbstzweifel sitzen tief. „Das hat viel mit den Nachwehen des sowjetischen Systems zu tun, das aus Angst, Zwang und Demütigung bestand. Den Künstlern wurde gesagt: Wenn du schlecht singst, bist du ein schlechter Mensch! Ich bin auch sehr streng mit meinen Kindern, aber es darf nie demütigend werden.“ Ihr Sohn ist jetzt sechzehn, ihre Tochter zwei, sie selbst spürt noch immer die frühe Kleinmacherei: „Ich kann die ganze Welt überzeugen, dass ich gut bin, aber das heißt nicht, dass ich selbst daran glaube. Ich muss darüber jeden Tag mit mir selbst reden.“ Sie lacht, erstaunlich grollend. Man ahnt, was für sie das Vertrauen des Salzburger Festspielchefs Markus Hinterhäuser bedeutet, der, rarer Fall, Salome auch für dieses Jahr wieder angesetzt hat. „Ich könnte stundenlang über Markus sprechen. Wie eine Person dir so sehr vertrauen kann! Viele dachten, oh, wie will sie die Salome singen? Er hat nicht mal eine Zweitbesetzung eingeplant, so sicher war er.“

Wie geht es ihr, wenn sie nicht auf der Opernbühne steht, sondern auf dem Konzertpodium wie jetzt in Hamburg mit der Vierzehnten Sinfonie von Schostakowitsch, diesen elf Liedern vom Tod? „Ich erschaffe meine eigene Geschichte. Immer bin ich es und zugleich out of Asmik. Jedes Stück wird ich und ich werde das Stück.“ Matthias Görne, der die Basspartien singt, hat ihr geholfen, den für sie wichtigsten Text auf Deutsch besser zu verstehen, Rilkes Tod des Dichters, die Beschreibung eines Gesichts beim Sterben. „Ich sah das aus sehr großer Nähe“, sagt sie leise. Ihr Vater? „Ja. Dieses Stück wird eines für ihn, über ihn sein.“

Die Elbphilharmonie ist ausverkauft, obwohl nur wenige Konzertgänger die Zweite Sinfonie von Arthur Honegger und die Vierzehnte von Schostakowitsch kennen dürften. 1969 uraufgeführt, kaum gespielt, weil man ein wahnsinnig gutes Kammerorchester – in diesem Fall das Ensemble Resonanz – und viele Proben braucht. Grigorian, erneut im weißen Kleid, beginnt fast streng, wie Distanz nehmend zu Federico García Lorcas tödlicher Sommerglut. „Einhundert heiß Verliebte schlafen für immer…“ Dann wechseln die Perspektiven, die Farben. Sanft und ausweglos singt sie vom Selbstmord, mit dichter Stimme vom todgeweihten, geliebten Soldaten. Dann wirft der Bassist mit Guillaume Apollinaire ein: „Madame, Sie haben eben irgendetwas verloren…“

„Pah, Kleinigkeit! Ach, es war nur mein Herz… Ich lache laut!“ Wie sie lacht, das zerreißt einem das Herz. „Cha“, die erste Silbe des russischen „lache“, hat Schostakowitsch isoliert, Grigorian verliert sich in diesem Laut. Man hört, wie sie in diesem Ton eine ganze kaputte Liebe umfasst, in deren Dunkel noch etwas glüht, bodenlos verzweifelt, absturzgefährdet. Als sie später den Sterbenden erreicht, unendlich behutsam, wird ihre Stimme weich wie „die Innenseite von einer Frucht, die an der Luft verdirbt“. So beschreibt Rilke das in seinem Gedicht. 2100 Zuhörer sind ganz still. Ein letztes kurzes Lied. In die Ovationen hinein lächelt Asmik Grigorian, erleichtert, als sei sie überrascht, überlebt zu haben. Alles gut? Nein, alles wahr.

Dieser Text erschien geringfügig kürzer am 21. Februar 2019 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt. Für die Edition auf dieser Website wurden die Überschrift geändert und Zwischenzeilen hinzugefügt. Foto: Algidiras Bakas