“Das ist grausam, das ist Strindberg!”

Eine Begegnung mit dem Bariton Johannes Martin Kränzle, der in Zürich den Don Pasquale neu erfindet – wie alle seine Rollen

Strenger schwarzer Anzug, lockige weiße Haare, so wartet er im Nieselregen an der Ampel in der Züricher Hardturmstraße. So könnte ein Film über ihn beginnen. Ein Sänger, der im Probenkostüm über die Straße geht und aussieht wie Gerhart Hauptmann, nur schlaksiger und fröhlicher. Dazu würde man vom Verkehrsrauschen zum Gesang blenden: „Ad ogni modo vo´provarmi…auf alle Fälle versuch ich´s mal…“ Johannes Martin Kränzle eilt aus logistischen Gründen kostümiert ins Café. In weniger als einer Stunde geht die Probe weiter, soviel Zeit hat er zum Essen und für unser Gespräch. Auf so einen Stress würden sich die wenigsten einlassen. Nur scheint ihn gar nichts zu stressen.

Wir sind gleichaltrig, und es ist jetzt tatsächlich schon 27 Jahre her, dass ich ihn in Hannover als Rossinis Figaro zum ersten Mal auf der Bühne bewunderte, wie dann noch des öfteren, während er immer berühmter wurde, an der Oper Frankfurt alle Mozartpartien seines Fachs sang , an Scala und MET debütierte, in Salzburg und Bayreuth, wo ihm seit 2017 die heikle Gratwanderung gelingt, in Barrie Koskys Meistersinger-Regie zugleich Beckmesser und Hermann Levi zu sein, der von Wagner gedemütigte jüdische Dirigent seiner Werke. Was ihn nicht hindert, nun seine Rolle als Don Pasquale genau so ernst zu nehmen.

Der 57jährige, dem ich zwei Stunden lang bei der Probe zum dritten Akt zugeschaut habe, ist auf alles, was im Titelhelden, in seiner Ohrfeigenszene mit Norina stecken mag, neugierig, als würde das Stück gerade erst erfunden. Er und Julie Fuchs arbeiten sich mit Regisseur Christof Loy so tief in die Nuancen von Tönen, Silben, Gesten, Mimik hinein, dass die Klischees einer Komödie sich in Szenen einer Ehe verwandeln. „Das ist grausam, das ist Strindberg“, ruft Kränzle einmal auf der Bühne und sieht glücklich aus. Sein Gesicht scheint immer jedes Gefühl, jeden Gedanken zu spiegeln, sogar mehrere gleichzeitig, die Stimme ebenso. Noch ist nichts fertig, intensiv aber alles.

„Ich bin noch auf der Reise in der Rolle“, sagt er später über seinem Nudelteller, „ich komme so offen wie möglich zu einer Produktion. Die Vorbereitung beginnt mit dem Lesen, erstmal nur den Text, nicht die Noten, die ihm gleich mal eine Farbe mitgeben. So hat man mehrere Ideen dazu, wie man den Text sprechen kann.“ Und welche Farben er wirklich braucht, das entscheidet sich erst in Proben wie der am Vormittag. Da hat Kränzle einmal das Wort „nozze“ so zart nachbeben lassen, als blicke Don Pasquale mitten im Zorn noch ins erotische Dunkel, das er sich von Norina erhoffte. Und wenn er wütet, sie werde ihn noch reif fürs Spital machen – dann klingt „ospedale“ nicht nur komisch.

Übrigens auch bei Donizetti nicht, der auf dieses Wort eine seltsame kleine Stille folgen lässt. Während der Komponist drei Jahre nach der Uraufführung in eine Anstalt bei Paris zwangseingewiesen wurde, hat Kränzle vor drei Jahren eine Knochenmarkserkrankung auf wunderbare Weise hinter sich gebracht – einer wenigen „MDS“-Patienten, die nicht nur überleben, sondern komplett die frühe Fitness wiedererlangen. Er ist immer offen damit umgegangen; in unserem Gespräch erwähnt er die Krankheit ganz selbstverständlich – denn ihretwegen wartet er noch immer auf eine der für ihn spannendesten Rollen.

kränzle

Mit seinem Freund Christof Loy als Regisseur war der Wozzeck geplant, den er dann nicht singen konnte. „Diese Rolle möchte ich unbedingt noch mal selber erfinden“, sagt Kränzle. Er hat den Wozzeck zwar in einer Wiederaufnahme in Paris gesungen, „aber noch nie in einer wirklich neuen Inszenierung. Ich mag nicht gern von anderen etwas übernehmen und bin dankbar für Produktionen, in denen ich die Rolle selbst kreieren kann.“ Nichts, glaubt er, ist so gut wie eine Aufführung, deren Sänger alle den Prozess der Entstehung miterlebt haben. „Als Intendant wäre ich ein wahnsinniger Konservierer der Erstbesetzungen, ich würde so lange wie möglich versuchen, die Truppe zusammenzuhalten!“

Gute Produktionen sind ihm wichtiger als ein voller Auftrittskalender, aber Kränzle hat ja auch nicht auf den gängigen Wegen zur Oper gefunden. Als Regensburger Gymnasiast spielte er Geige und komponierte für Schulopern, danach wollte er Musikttheaterregie in Hamburg studieren. „Ich hatte mir das als etwas sehr Praktisches vorgestellt, es wurde aber reine Theorie. Nach einem halben Jahr wollte ich da wieder weg und Schulmusik studieren.“ Bei der Aufnahmeprüfung in Frankfurt musste er auch singen, „zwei Lieder und Humperdincks Besenbinder“. Da hörte ihn Martin Gründler, als Gesangsprofessor eine Legende. „Der sagte, so, du wirst Sänger. Ich laufe niemandem nach und habe eine volle Klasse, aber dich nehme ich auf.“

Was Kränzle bei ihm lernte, war „eine Lebensversicherung für meine Stimme. So schlank wie möglich, die Stimme nicht künstlich größer machen, sondern versuchen, sie über die Obertonreihe hören zu lassen.“ Dreimal pro Woche hatte er Unterricht, dazu kamen sechs Stunden Schauspielunterricht. Zudem wurde damals an der Frankfurter Oper mit dem Intendanten Klaus Zehelein und dem Dirigenten Michael Gielen das Musiktheater neu erfunden. „Ein Stück war spannender als das andere, ich bin dadurch szenisch sehr geprägt. Das Politische von damals kommt heute fast gar nicht mehr vor.“

Gesellschaftliche Brisanz realisiert er gern im Subtilen – sein Gunther in der Götterdämmerung, die Vera Nemirova 2007 inszenierte, war ein feinsinniger, hilfloser Typ, der mit beklemmend nachvollziehbarem Opportunismus zum Mordhelfer wird. Ist es von gestern, wenn Don Pasquale seiner jungen Frau den Theaterbesuch verbieten will? „Es gibt immer noch Kulturen, in denen der Mann seiner Frau sagt, du gehst jetzt nicht aus dem Haus!“ Nur dass Norina, „fast ungewöhnlich für die Zeit, die Fäden in der Hand hat, sie geht mit ihrem Liebhaber und mit Don Pasquale um, wie sie möchte. Diese Männer sind eher schwach. Aber ob Donizetti das politisch fand – das wage ich zu bezweifeln.“

Er bewundert vor allem dessen Meisterschaft. „Mir ist das schon beim Lernen als wahnsinnig kluges und reifes Stück vorgekommen. Bei Wiederholungen ist immer eine Kleinigkeit anders. Man übersieht das schnell, wenn man es nicht genau liest. Oft bricht er Sachen ab, bringt neue Motive, es ist so klug gesetzt, auch warum und wann Harmoniewechsel kommen. Selbst beim besten Rossini, der sprüht vor Einfällen, würde es nie so tief gehen. Dieses Stück bricht die opera buffa, taucht sie nochmal in ein tieferes Licht, und ist wirklich der Vorbereiter für Verdis Falstaff. Ich finde, es ist seine beste Oper.“

Wie gelingt es Kränzle, Klangfarbe, Gestik, Mimik so stimmig zu verbinden, als übersetze er in Echtzeit die Nuancen der Partitur ins Szenische? „Das geschieht nicht bewusst, das stellt sich ein durch den klaren Gedanken in dem Moment, und das Gefühl.“ Jenseits aller Schminktricks wird aus dem 57jährigen ein alter Mann, der von einer jungen Frau das größte Glück erhofft. Und dann knallt sie ihm eine. Was Julie Fuchs in der Probe zum Spaß einmal nur ganz weich und lieb und grinsend erledigt. Und Kränzle geht wie eine Zeichentrickfigur in die Knie, mit wackelndem Rücken und verrutschten Zügen. Einer der wunderbaren Probenslapsticks, mit denen man sich vom Existenziellen erholt.

Hat er nie Angst, dass eine Rolle, eine Identifikation ihn zu sehr mitnimmt? „Nein. Ich versuche, meine Emotionen ganz ehrlich zu machen, und es ist fast eine kathartische Freude, auch wenn man einen Verzweifelten spielt. Aber ich trage das hinterher nicht mit nach Hause.“ Vielleicht ist auch die Vielfalt seiner Rollen ein Schutz vor den Abgründen. Und die eigene Identität. „Stimmliche Unverwechselbarkeit entsteht über das, was man ist, wie man ist. Und mit der Obertonreihe. Wenn man nur mit der Grundstimme singt, wird´s schnell verwechselbar. Jetzt muss ich ´rüber!“ Dann eilt er durch den Regen zur Probe, der Unverwechselbare.

Dieser Text erschien geringfügig kürzer im MAG 74 der Oper Zürich, November 2019, und ist urheberrechtlich geschützt. “Don Pasquale” hat am 8. Dezember in Zürich Premiere, es dirigiert Enrique Mazzola, Regisseur ist Christof Loy.