„Nie wieder Prüfungen!“

Er zählt zu den gefragtesten Orchesterchefs und pendelt zwischen Pittsburgh und Petersburg – Mariss Jansons, 56 Jahre. Ein Porträt

Ein kleiner, unauffälliger Typ, etwas blaß und verknautscht. Wie er da im Hotelfoyer erscheint, könnte man ihn für einen mäßig erfolgreichen Schuhverkäufer halten. Er läßt sich in den Sessel sinken wie einer, der lange gelaufen ist. Von Aura keine Spur. Wer sagt auch, daß ein Orchesterchef den ganzen Tag lang eine Aura um sich haben muß? Braucht er überhaupt eine?

Nach den üblichen Kriterien kann Mariss Jansons gar kein Maestro sein. Maestri sind braungebrannt, tragen außerhalb der Konzerte sanft fallenden Zwirn oder weiße Rollis, erzählen lächelnd Anekdoten und werden nach einer halben Stunde vom persönlichen Referenten daran erinnert, daß der nächste Journalist schon wartet. Und natürlich waren sie alle Wunderkinder.

Mariss Jansons, seit 1978 Chefdirigent in Oslo, seit 1997 Chefdirigent in Pittsburgh und im vergangenen Sommer als dritter Favorit neben Barenboim und Rattle in Berlin gehandelt, war kein Wunderkind. Er tat nur so. „Ich habe mit zwei, drei Jahren gespielt, dass ich Dirigent bin,“ sagt er, „mit einem Holzstück als Taktstock.“ Das war in Riga an der Ostsee, wo sein Vater Arvid im Opernhaus dirigierte.

Er erzählt das ziemlich ernst, nicht wie einer, der von der Höhe des Ruhms den Anfängen zulächelt. Denn seinen Anfängen folgte kein Senkrechtstart, sondern eine lange, strapaziöse, sowjetische Ausbildung, in der er als Lette nicht nur richtig russisch lernen mußte, sondern auch beweisen, daß er mehr als nur der Sohn eines bekannten Vaters war.

Noch jetzt, mit 56 Jahren, sagt er erleichtert: „Nie wieder Prüfungen!“ Sein erster Meister oder gar Zuchtmeister war der gestrenge Jewgeni Mawrinsky in Leningrad. „Selbst wenn er zu Hause war, dachten die Orchestermusiker, er könnte im Saal sitzen.“ Bei ihm hat Jansons viel gelernt, vielleicht aber auch beschlossen, den Musikern nicht so viel Angst einzujagen.

Dann durfte er in Wien studieren und lernte bei Hans Swarowsky das Analysieren von Partituren – einem Mann, der noch unter Mahler musiziert hat. Bernstein und Karajan luden den jungen Mann als Assistenten ein. Da hätte er eine Karriere im Westen starten können, aber er kehrte zurück nach Leningrad und wurde Assistent von Mrawinsky.

Mit 36 Jahren trat er seinen ersten Chefjob an. Es war ein etwas marodes Ensemble auf der anderen Seite der Ostsee. Und dieses Philharmonische Orchester Oslo, aus dem eines der tönenden Flaggschiffe Skandinaviens geworden ist, leitet er noch heute. Er hat auch immer noch eine Wohnung in Leningrad, das wieder Petersburg heißt, und einen Gastvertrag. Für 400 Mark im Monat.

Das ist dort viel. Wovon die anderen 95 Prozent der Bevölkerung leben, „das kann ich mir nicht erklären.“ Dagegen mutet Pittsburgh zunächst paradiesisch an. Das Orchester der pennsylvanischen Industriestadt, von Sponsoren gestützt, gehört zu den amerikanischen „Next Five“, die gerade dabei sind, die „Big Five“ zu überholen. Jansons nennt es respektvoll einen „Mercedes“, und als der Mann von der Ostsee den Nobelchauffeur Lorin Maazel ablöste, empfing man ihn mit Straßenbeflaggung.

Der „Honeymoon“ dauert nun schon zwei Jahre. Die Musiker schätzen es nicht nur, daß man Jansons auch im Fahrstuhl ansprechen darf (das haben Maestros nicht gern), sondern auch, „dass wir nie genau wissen, was er im Konzert machen wird“ (das scheint bei Maestros selten vorzukommen). Die New Yorker Kritik hat sich nach seinem Schostakowitsch fast überschlagen, und die erste Europatournee in diesem Sommer war ein Erfolg.

Man lobte den dunklen, schweren, den „deutschen“ Klang und entsann sich, dass einst ja ein Fritz Reiner dieses Ensemble leitete. Die nächste Tournee durch die Alte Welt ist schon fürs Jahr 2000 gebucht. Dennoch sieht Jansons allenthalben das Publikum schwinden. Man versucht zwar auch in Pittsburgh allerlei Tricks, es gibt Überraschungsprogramme, Gesprächskonzerte, Videoübertragungen, „aber das wird nicht die Probleme grundsätzlich lösen.“

Es regt ihn auf, wenn er hört: „Lass doch die Leute entscheiden, welches Entertainment sie haben wollen.“ Das sei keine freie Entscheidung. „Wenn ein Kind den ganzen Tag etwas über Schokolade hört, interessiert es sich für Schokolade.“ Und das Konsumieren interessiert jetzt mehr Leute als die Klassik. „Vielleicht müßte man mit Steuern dafür sorgen, daß die Kunst für alle frei ist.“

Und zugleich Pflicht. „Obwohl ich in einer Diktatur aufgewachsen bin – dafür würde ich sogar Propaganda machen.“ Noch etwas erinnert ihn an seine sowjetischen Erfahrungen. Schostakowitsch werde im Westen viel besser verstanden als früher – „weil das Leben auf der ganzen Welt schwieriger wird. Man muss ein bisschen erleben, was er selbst erlebt hat. Den Druck, die Einsamkeit.“

Aber beleuchtet nicht auch die neueste Musik unseren Alltag? Die reizt ihn nicht so. Vielleicht dürfe Musik unseren Erfahrungen nicht allzu nahe kommen, überlegt er. „Musik war immer schneller, als unsere Seele absorbieren kann. Die Masse braucht Zeit. Vielleicht wird im nächsten Jahrhundert ein Komponist zum Helden erklärt, den man jetzt kaum kennt.“ Und die großen Toten hält er für zeitlos. „Mich interessiert nicht, für welche Epoche sie geschrieben haben.“

Entscheidend sei das „Spirituelle“. „Gut, wir fliegen mit Astronauten, aber ob wir uns geistig entwickelt haben? Ich bin nicht sicher… Die Kunst ist ein Lebensmittel für unsere Seele,“ meint Jansons. „Wenn sie nicht obligatorisch gesichert ist, gibt es einen Krach.“ Das ist sein kleines Wort für „Katastrophe“, aber er sagt das nicht mit dem Raunen des Philosophen, sondern eher wie ein Handwerker, der guckt, was am alten Auto noch zu retten ist.

Was ist denn so Rettendes in der Musik, die er liebt, von Haydn bis Schostakowitsch? „Sie gibt dir phantastische Gefühle! Die Noten sind nur Zeichen, dahinter sind Geist, Gehalt, Atmosphäre!” Er greift hilflos in die Luft. „Ich arbeite schon in den Proben mit Emotionalität. Ich kenne bei Strauss genau die Stellen, wo ich Tränen bekomme, weil er ganz persönlich sagt, was ist in seiner Seele.“

Und grinst müde: „Ach, Musiker sind Besessene. So eine kleine Gruppe. Nichts gegen den Rest der Welt!“ Und immer nur Dirigieren sei auch nicht gut. Erst nach einem Herzinfarkt hat Jansons gemerkt, was ihm fehlte. „Viel lesen, viel denken. Wir haben keine Zeit zu denken. Aber,“ gibt er zu, „ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich nichts mache.“

Am Abend hat er seinen Auftritt mit dem Concertgebouw Orkest in Amsterdam. Mit hastigen kleinen Schritten kommt er die Treppe zum Podium hinab, die Schultern leicht hochgezogen, schnelle Verbeugung zum Applaus, dann dreht sich Mariss Jansons zum Orchester um. In diesem Moment verwandeln sich alle Dirigenten der Welt, aber selten erlebt man das so drastisch wie bei ihm.

Er sieht aus, als sei eine Last von ihm genommen. Größer und energischer. Mit wenigen klaren Armbewegungen läßt er den d-Moll-Donner aus dem Orchester brechen. Alles, was die Musiker tun, wird gebündelt und kommt voll auf uns zu, und wie mit einer Art Entsetzen merkt man, daß die 140 Jahre Sicherheitsabstand einen nicht vor Brahms´ erstem Klavierkonzert schützen werden.

Die Musik ist gefährlich. Die Konventionen, die sie gebraucht, sind zerbrechlich. Manche Motive betreut Jansons vorsichtig wie ein Therapeut, andere treibt er ins Extrem. Links modelliert er eine kleine Triumphszene – fast nur das Zitat einer Fanfare, rechts dreht sich sechsachtelweise das Mühlrad einer Depression, ein schlichtes Zweitonmotiv wird ein Hilferuf.

Wenn man sieht, wie Jansons kurz ein Dreieck mit der Rechten schlägt, während die Linke die Geigen in den Saal zieht, weiß man, was Schlagtechnik heißt. Das ist keiner, der hier und da mal ein piano fordert. Er formt in großem Bogen einen Kosmos von Nuancen, die Szenen sind so klar, daß man gleichsam hindurchsehen kann – nicht in Brahms hinein, sondern in das Wesen, das er da komponiert hat. Es lebt tatsächlich.

Es ist so real, dass man sich selbst fast ein bisschen provisorisch vorkommt und der Pianist offenbar auch, denn Yefim Bronfman hat in dieser Intensität Mühe, über die Rolle eines wackeren Spielmanns hinauszukommen. Dabei ist Jansons nicht dominant. Aura? Er ist einfach nur voll da. Er ist so naiv zu glauben, daß hier Abenteuer lauern. Und darum kommen sie auch.

Da verwandelt sich selbst das „Heldenleben“ von Richard Strauss von einem Saurier sinfonischer Selbstgefälligkeit zu einem wendigen Tier. Im Sattel sitzt Mariss, drei Jahre alt oder 56, und reitet uns alle ins Wunderland. Die Leute toben wie selten in Amsterdam. Jansons verbeugt sich schnell und eilt über die Treppe hinaus, als hätte er einen Scheck gefälscht. Ein kleiner, unauffälliger Typ, etwas blaß und verschwitzt.

Dies ist die unredigierte Fassung eines Textes, der im September 1999 für die “Stuttgarter Zeitung” entstand. Die Druckfassung liegt dem Autor nicht vor und ist online nicht zugänglich. Kürzere Fassungen erschienen in der Badischen Zeitung vom 18. 8. 1999 und in der Leipziger Volkszeitung vomm 2. 9. 1999. Die hier zu lesende Fassung wird vom Autor zur Erinnerung an Mariss Jansons ins Netz gestellt, der am 30. November 2019 mit 76 Jahren in Sankt Petersburg den Folgen einer Herzerkrankung erlag.