Ich weiß nicht mehr, wie wir auf den Papst kamen. Vielleicht ist der Papst derzeit das perfekte Thema für Leute, die gegen Mitternacht in einer Hotellobby sitzen, müde, aber noch nicht bereit für den Rücktritt, pardon, Rückzug, und die nun das zweite Getränk vor sich stehen haben. Ich bestellte mir auch noch ein Bier. Der Papst. Er wundere sich, sagte der österreichische Pianist, der gerade von Kamillentee auf Gin Tonic umgestiegen war, dass es gar keine Kritik gegeben habe. Überall sei der Rücktritt Benedikts des Sechzehnten mit Verständnis, Respekt, teilweise sogar mit Gesang begrüßt worden.
„Aber“, sagte er, erschöpft ins Polster gelehnt, „man kann doch nicht einfach vom Kreuz steigen.“ Er selbst sei Katholik, nicht praktizierend, aber doch… „Da muss ich Ihnen widersprechen! Als praktizierender Katholik!“, rief da der bayerische Jurist. „Du praktizierst?“ fragte schnippisch die Dame neben ihm. „Ach, was wisst ihr davon…“ sagte der Jurist. „Stimmt, ich bin ja bloß eine protestantische preußische Beamtentochter.“ „Also“, fuhr er fort, „es gibt kaum noch Autoritäten. Oder keinen Respekt vor Autoritäten. Oder beides.“
Er nahm sich zwei Salzbrezeln und zermalmte sie. „Der Pontifex ist aber eine Autorität. Schlechthin. Und wenn so eine Autorität so eine Entscheidung trifft, dann steht es uns Würstchen überhaupt nicht zu, darüber ein Urteil zu fällen.“ „Eine Meinung würde mir auch schon reichen“, murmelte ich und nahm einen Schluck, „mir als Konfessionslosem.“ „Und die Würstchen haben wir jetzt mal überhört, mein Lieber“, sagte die Protestantin. „Nein, wirklich“, sagte nun der Pianist wie erneut nachdenkend, „als Stellvertreter Gottes auf Erden kann man nicht einfach so vom Kreuz steigen. Da heißt es leiden bis zuletzt.“
Während der österreichische Musiker mit offenem Hemdkragen, wirren Haaren und Bartschatten im Polster lehnte, war der bayerische Jurist mit perfekt sitzender Krawatte und knapper Frisur und vorgebeugt auf der Sesselkante das genaue Gegenteil. Sie steigerten noch gegenseitig ihre Eigenschaften. Je energischer der eine Katholik für den Ruhestand mit 85 eintrat, desto hinfälliger verlangte der andere den Kreuzestod im Amt. Aber auch er wich um keinen Millimeter. Radikal, beide. Ging es eigentlich um den Papst oder um die Protestantin? Ich fühlte mich auf einmal entsetzlich müde.
Ich dachte, vielleicht fehlt dem Benedikt jetzt auch sein Nachbar Hans Werner am Castel Gandolfo, der andere große Deutsche in der Gegend, den er immer ärgern konnte, in dem er seine weißen Vatikanshubschrauber über das Anwesen des gleichaltrigen atheistischen Tonsetzers fliegen ließ. Aber die Erwägung war an dieser Stelle nicht fundamental genug für einen Diskussionsbeitrag. „Ich trete jetzt mal zurück“, sagte ich und erhob mich. „Aber nur bis zum Frühstück!“, verlangte die Protestantin. Die Katholiken winkten teilnahmsvoll.
Der Text erschien am 23.2.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt