Wie groß muss ein Gebäckstück sein, um ein Regal zu füllen? Nicht mal faustgroß. Die ganz Schlauen wissen natürlich jetzt schon, wovon die Rede ist. Gebäckstück plus Regal, alles klar. Nee? Ergänzen Sie „Buch“. Halloho? Ergänzen Sie „Roman“. Zack. Da haben wir sie schon, die Madeleine. Das ist ja das Problem. Jeder, aber auch jeder, der nie die „Suche nach der verlorenen Zeit“ las, aber davon gehört hat, beruft sich auf die Madeleine, wenn es um Kindheit und Erinnerung geht. Oder um Salami oder um Kleist.
Es ist nicht Prousts mehrbändiger Roman, der ein Regal füllt. Man bräuchte eines, würde man alle Veröffentlichungen allein im deutschsprachigen Raum ausdrucken, in denen Intellektuelle ihre kleine Anspielung loswerden. 2005 diagnostizierte das Onlinemagazin „Slate“ , Prousts Madeleine sei eine highbrow reference, die längst die Popkultur durchdringe. Inzwischen taugt sie auch für Gaga auf Seite 1 wie vorige Woche in F.A.Z. und Süddeutscher.
Welche verdammte Madeleine, brüllen jetzt Leser, die auf Scheinbildung pfeifen, was hatte diese Madeleine mit diesem Proust? Naja, als er klein war, bekam er von einer Tante oft ein Gebäck, das sie in ihren Tee getunkt hatte, ähnlich unserer „Bärentatze“, genannt „Madeleine“. Später erinnerte er sich an den Geschmack und rekonstruierte daraus seine Kindheit. Es wurde ein Text, den heute jeder Lektor ablehnen würde. Kein Tempo, zuviele Adjektive.
Auf die Sache mit dem getunkten Gebäck hatte Proust dummerweise selbst hingewiesen in einem Exposé. Die Schlüsselszene konnte fortan jeder erwähnen, der zum Club gehören wollte. „Mein Madeleine-Erlebnis war der Geruch von Holzwolle und Ernte“, verkündete der eine Autor, der andere stellte sich mit Markklößchensuppe ins Regal. Filmemacher Bertolucci nannte Parmaschinken als Äquivalent, sein Kollege Kwan die Frühlingsrolle. Und Proust adelte sie alle. Sag einfach Madeleine, und niemand fragt mehr nach dem Abitur.
Über ein neues Buch sage cool und beiläufig: „Ein ähnlicher Text wäre entstanden, hätte Proust statt Tee und Madeleine russischen Wodka bevorzugt.“ Was bei kleinen Jungs aus guter Familie ja nahe liegt. Indessen hatte die F.A.Z. schon 1998 einem Romancier gezürnt: „Wieder wird die unvermeidliche Madeleine in den Tee getunkt.“ Unvermeidlich war sie aber vor allem für die Feuilletonisten selbst, die anno 2008 in der „Welt“ den ganz großen Bogen schlugen: „Kleist ist wie eine Madeleine von Proust: Sie löst diffuse Erinnerungen an die Zeit vor der Revolution aus.“
Nun war kein Halten mehr, „Brigitte“ bot nur vorübergehend Einhalt. 2007 wies das Magazin in einer Umfrage nach, dass 78 Prozent der Frauen einen Mann, der mit dem Bohrer klarkommt, einem vorziehen, der weiß, „was Proust mit Madeleine zu tun hat“. Den übrigen 22 Prozent möchte man raten, den Typen auf den Zahn zu fühlen: Was war es denn für ein Tee? Jasmintee, wie die „taz“ noch glaubt, jedenfalls nicht.
Der Text erschien am 2.3.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt