Diesmal erwachte Frido als Riesenhirsch. Er ist jeden Tag ein anderes Tier und manchmal Pippi Langstrumpf, aber ausgestorbene Tierarten waren bislang nicht dabei. Wir hatten am Abend zuvor in einem Kinderbuch über Steinzeitmenschen geblättert, in dem diese auch bei der Jagd auf Riesenhirsche gezeigt wurden, monströse Paarhufer mit einer Geweihspanne von bis zu vier Metern. Ich hatte ihm gezeigt, wie lang das ist: Vom Fenster bis zur Tür, durch die so ein Hirsch auf keinen Fall passen würde. Er hatte das ausnahmsweise nicht kommentiert, so tief beeindruckte es ihn. Und nun war er also selber einer.
„Du weißt aber, wie groß dein Geweih ist?“, fragte ich ihn, während wir mit Paul unsere morgendlichen Heißgetränke schlürften. „Mit so einem Geweih kommst du hier nicht raus.“ „Ich bin ein kleiner Riesenhirsch, und Paul ist ein ganz kleiner.“ Meist dehnt er die Metamorphose auch auf seine Eltern aus, weswegen wir auch schon Rabenvater und Rabenmutter waren. Jetzt war Fridos Mama unterwegs, aber schon die Vorstellung eines einzelnen, ausgewachsenen Riesenhirschs neben sich schien ihm nicht zu behagen; ich blieb Mensch.
Sonst wäre ich ja auch nicht durch die Tür gekommen, was ein kleiner Riesenhirsch gerade noch hinkriegt. Er verschwand mit dem Hinweis, er werde sich jetzt ein Geweih machen. Ich las in der Zeitung den etwa 304. Großartikel über den Streit um den Suhrkamp Verlag und überlegte, ob bei so einem Verlag eher die schwierigen Autoren oder die schwierigen Geschäftsführer mit den schweren Schaufeln des Megaloceros zu vergleichen wären, die ihn, wie manche glauben, schließlich in die Knie und zum Aussterben zwangen. Aber es war noch zu früh für Gedanken von solcher Spannweite.
Der kleine Riesenhirsch erschien, und der kleinste musterte ihn nicht weniger erstaunt als ich. Frido hatte sich Haarreife über die Ohren gehängt und trug über diesen großen Bögen ein seidenens Kopftuch, das mit Lokomotiven gemustert war. Ich hatte weder die Reife noch das Tuch je zuvor gesehen, aber mir entgeht öfter mal was. Vor allem hatte ich noch nie einen Vierjährigen gesehen, der zu einem hellblauen Pyjama ein Kopfornat trägt wie eine Mischung aus Diva und Babuschka. „Siehst du mein Geweih?“, fragte Frido stolz.
„Es ist fantastisch. Aber wofür trägt ein Riesenhirsch ein Kopftuch?“ „Damit das Geweih nicht abfällt.“ Er hatte das Lokomotivendesign so eng unterm Kinn verknotet, dass es die Haarreife hielt, die für seine Ohren viel zu groß waren, und grinste verlegen. Wären die Riesenhirsche so findig gewesen, hätten sie wohl noch länger gelebt als nur 400.000 Jahre, vom Suhrkamp Verlag mal ganz zu schweigen. Paul setzte sein Fläschchen ab, richtete sich auf und röhrte. „Das hat Zukunft“, sagte ich. „Was ist Zukunft?“ fragte Frido und nestelte am Geweih. „Oh je“, sagte ich, „schwierig. Zukunft ist morgen.“ „Morgen“, strahlte er, „bin ich ein Säbelzahntiger.“
Der Artikel erschien am 9.3.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt