6. Mai 2021

> „Ich hatte mich hier ausgestreckt, gestern um vier, als ich die Klingel hörte, dann ein energisches Stapfen die Treppe herauf; & dann, siehe da, platzte eine stämmige, militärisch wirkende alte Frau (älter als ich erwartet hatte) ins Zimmer, ein wenig glasig, flatterhaft & abrupt; in einem Dreispitz & Schneiderkostüm. „Lassen Sie sich anschauen.“ (…) Wir redeten – sie redete sehr viel mehr als ich. (Auf der Treppe, als wir zum Tee hinaufgingen, hatte ich darum gebeten, Virginia genannt zu werden; etwa zehn Minuten nach dem Tee bat sie, Ethel genannt zu werden: alles war geklärt; das Fundament für eine unsterbliche Freundschaft in 15 Minuten gelegt: – wie vernünftig; wie schnell;) & sie legte los; ah, über die Musik …“

virgina u ethel

So lernten sie einander kennen am 20. Februar 1930, die 48-jährige Virginia Woolf und Ethel Smyth, Komponistin und Buchautorin, 24 Jahre älter. Smyth (das y spricht man wie das ai in Mai) ist eine der erstaunlichsten Gestalten der Musikgeschichte. Sie schrieb neben Opern, Oratorien, Kammermusik, Liedern auch mehrere höchst lesenswerte autobiografische Bücher, ging für den Kampf ums Frauenwahlrecht ins Gefängnis, kannte Gott und die Welt, von Queen Victoria bis zu Wilhelm II., mit dem sie über Politik diskutierte. Sie traf Brahms, Tschaikowsky, Debussy, Mahler, Schönberg, zu ihren Bewunderern zählten die Dirigenten Bruno Walter, Henry Wood, Thomas Beecham, und Dirigentin war sie selbst: Bald nach dem Besuch bei Woolf nahm Dame Ethel im Mai 1930 die hinreißende Ouvertüre zu ihrer Oper „The Wreckers“ auf.

Am 8. Mai 1944 starb sie mit 86 Jahren. Am 9. Mai, am kommenden Sonntag, gilt ihr die neue Ausgabe der „Interpretationen“ auf Deutschlandfunk Kultur. Um 15.05 beginnt “Die Brückenbauerin”, ein diskografisches Porträt mit Aufnahmen von 1916 bis 2019 und O-Tönen von Ethel Smyth selbst bis zu ihrer besten Kennerin in unserer Zeit, der Berliner Musikwissenschaftlerin Marleen Hoffmann. Die Sendung ist danach ein Jahr lang als Podcast online.

Hörentdeckungen kann man auch in der jüngsten Folge von „Rausch & Räson“ bei VAN machen, betitelt „Tontrauben über dem Spülkasten“, während die zweitjüngste Folge vom 31. März sich mit den Leipziger Querelen um den designierten 18. Thomaskantor nach JSB befasste. Wie es scheint, hat sich die Situation inzwischen beruhigt

Bleibt anzumerken, dass das Zitat von Virginia Woolf aus der wunderbaren deutschen Ausgabe ihrer Tagebücher stammt, aus dem dritten von fünf Bänden, erschienen 1999 im S. Fischer Verlag, übersetzt von Maria Bosse-Sporleder und herausgegeben von Klaus Reichert. Das Foto von Virginia und Ethel (mit ihrem Hörrohr in der Hand) entstand in den 1930ern in Monk´s House, dem Wohnsitz der Woolfs in East Sussex, und ist abgedruckt in “Virginia Woolf” von Quentin Bell, in deutscher Übersetzung 1977 im Insel Verlag erschienen,