21. März 2021

> Es geht! So, wie es im vorigen Sommer in Salzburg ging und in Bayreuth, wo Max Emanuel Cenčić am Fuße des verstummten Hügels sein Barockmusikfestival ohne eine einzige Absage durchzog. Jetzt geht es in Spanien, in Madrid, Valencia und Barcelona. Dort, im Liceu, wird vom 27. März an elf Mal Verdis Otello vor tausend Besuchern aufgeführt. Oder drei mehr? „Ma in Ispagna son già mille e tre…“ Okay, es ist Katalanien. Gustavo Dudamel dirigiert, inszeniert hat Amélie Niermeyer. Das Hygienekonzept ist hier nachzulesen.

Solche Konzepte haben auch deutsche Häuser, aber die morgige Öffnung des Staatstheaters Mainz wurde gestoppt, nachdem alle Tickets verkauft waren. Bleibt das Berliner Pilotprojekt, bei dem jetzt verschiedene Podien für je eine Veranstaltung 50 Prozent der Plätze Besuchern geben dürfen, die sich zuvor testen lassen – auch die schon Geimpften – und auch dann noch Masken tragen. Trotz solcher Handicaps war das Konzert der Berliner Philharmoniker am 20. März innerhalb von drei Minuten ausverkauft.

Das ist schön, aber von unbeschränkter Teilhabe aller Bürger*innen am kulturellen Leben so weit entfernt, dass man sich weiterhin Gedanken über die Verhältnismäßigkeit von Sicherheitsmaßnahmen machen muss. So, wie es jetzt das Oberverwaltungsgericht Niedersachsen tat, als es im Eilbeschluss das Verbot von Einzelmusikunterricht außer Kraft setzte. Rechtzeitig zum 336. Geburtstag des bekannten Musikpädagogen J.S. Bach am heutigen Tage.

Dass für so etwas Gerichte in Anspruch genommen werden müssen, liegt an der „weitgehenden (Selbst-)Ausschaltung der Parlamente“, die der Schweizer Historiker Caspar Hirschi in der FAZ vom 9. März anspricht – nicht als erster. In seinem Aufsatz „Kalkül statt Kompetenz“ (Titel der Printausgabe) geht es um die Doppelrolle von Experten, die als Wissenschaftler direkt in die Politik eingreifen, wie das vor dem zweiten Lockdown in fragwürdiger Weise geschehen sei. Am 8. Dezember 2020 hatte die Leopoldina einen harten Lockdown „aus wissenschaftlicher Sicht“ für „unbedingt notwendig“ erklärt; Mitunterzeichner dieses Appells war Lothar Wieler als Präsident des Robert-Koch-Instituts.

Er ist zugleich offizieller Berater jener Bundesregierung, die den Appell vor dem Parlament in „einen Sachzwang verwandelte“, so Hirschi, der darum erwägt, die Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften, könne eine Regierungskampagne umgesetzt haben. Sie habe „einen wissenschaftlichen Konsens [inszeniert], wo es keinen geben kann.“ „Die Zahlen mögen sein, wie sie wollen“, schreibt er, „sie geben nie wie ein Naturgesetz vor, was zu tun ist.“

Diesen Satz zitiert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der FAZ vom 13. März zustimmend aus dem, wie er findet, „klugen Text“ von Hirschi. In derselben Ausgabe nennt Gerald Haug, Präsident der Leopoldina, denselben Text ein „Gespinst“, in dem „nicht einmal der Schatten eines Indizes“ dafür angeführt werde, dass Wieler eben nicht als unabhängiger Wissenschaftler den Appell unterzeichnet habe. Der Schatten, den Wielers Doppelrolle wirft, ist offenbar so groß, dass Haug sich in ihm geborgen fühlt, während er die Kritik eine Verunglimpfung nennt.

Steinmeiers Unterstützung dieser Kritik markiert eine Wende. Auf Kritik an der Praxis der Lockdowns ist lange mehrheitlich so reagiert worden, als unterstelle man einem, der am Spiel eines Orchesters etwas auszusetzen hat, er habe grundsätzlich etwas gegen Orchester. Unter so diffusem wie beträchtlichem Druck überließ die politische Linke die Kritik an Corona-Maßnahmen den Rechten. „Gibt eine Regierung“, so Hirschi, „einen schwerwiegenden Entscheid als wissenschaftlichen Imperativ aus“, so lasse sie „politischen Widerspruch nur noch in Form einer populistischen Fundamentalopposition zu.“

Im publizierten Diskurs gibt es längst andere und differenziertere kritische Stimmen als die der Rechtspopulisten. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung hat seine Kommentierung in ein Buch münden lassen: „Not und Gebot – Grundrechte in Quarantäne“, und zumal in der FAZ finden sich eigenständige Köpfe, der Soziologe Wolfgang Streeck etwa, nicht mit Hendrik Streeck verwandt, wie er am 11.1.2021 amüsiert beteuert, oder der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit, der am 13. Dezember 2020 erklärte, er habe um seine Karriere gefürchtet, als er eine Strategieänderung in der Pandemie forderte.

Dass sie nicht stattfand, dass außerdem das Kulturbewusstsein deutscher Politiker nicht mehr Platz wegnimmt als eine FFP2-Maske, hat auch abertausende leere Plätze in den Häusern zufolge. Die Musiker klagen unterdessen nicht mehr, sie stellen Forderungen wie auf der Medienkonferenz der Deutschen Orchestervereinigung im Februar. Und sie streamen. Für die ZEIT habe ich versucht, zwei Premieren gleichzeitig anzusehen. Als größtes Problem erwies sich nicht das time management, sondern die Einsamkeit. Theater ohne Theater ist (für mich) nicht länger als siebzig Minuten auszuhalten.

Gleich zwei Stunden dauert dafür die Sendung „Interpretationen“, allsonntäglich neu auf Deutschlandfunk Kultur zu hören und dann jeweils ein Jahr lang als Podcast. Ich habe diese „Schatzinsel“ für VAN porträtiert, selbst zu den Insulanern zählend: Mein Beitrag zu Strauss´ Alpensinfonie ist noch bis zum 30. August zu hören, die Sendung Bachs vor Bach bis Weihnachten, der Marsch in den Untergang über Bergs Orchesterstücke opus 6 nur noch heute.

Ein Hörtipp anderer Art führt in Rausch & Räson Nr. 34 über die A7 zu Mozarts Prager Sinfonie und bis zum Südpol. Und wer einer vorzüglich konzipierten und produzierten CD lauschen will, mit Werken, die sonst keiner spielt, greife zu Variations on Folk Songs, gespielt von Anna Besson und Olga Pashchenko auf romantischer Klappenflöte und am Fortepiano – vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik auf die aktuelle Bestenliste befördert. Der eingangs erwähnte Max Emanuel Cenčić hat beim PDSK soeben einen der Ehrenpreise des Jahres erhalten. Manuel Brug lobt ihn auf Youtube als „multiple Persönlichkeit“.

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