> Über zweieinhalb Jahre, von Anfang 2020 bis zum Herbst 2022, hat sich die Produktion eines so latenten wie öffentlichen Fünfteilers erstreckt, der die Horizonte und Zooms des Buchs Flammen radiophon vertieft, also die vielleicht bewegteste, risikoreichste und herausforderndste Zeit der europäischen Musik bis jetzt, die Jahre zwischen 1900 und 1918. Dass ich wichtige Komponisten und Werke dieser Zeit und dieses Buchs in gleich fünf Ausgaben der „Interpretationen“ auf Deutschlandfunk Kultur würde erkunden können, im schon geradezu märchenhaften Format einer Zwei-Stunden-Sendung mit Studiogästen, Sprecher*innen, O-Tönen und natürlich unzähligen Aufnahmen, war keineswegs geplant, aber doch naheliegend.
Es begann mit Alban Bergs Orchesterstücken opus 6 und Richard Strauss´ Alpensinfonie (2020) und ging weiter mit einem diskographischen Porträt der Komponistin Ethel Smyth (Mai 2021, seit September 2022 erneut online) und Arnold Schönbergs Streichquartett opus 10 (online seit Januar 2022). Teils gingen dabei Funde der Radio-Recherche in die Arbeit am Buch ein, teils umgekehrt. All das wurde von Olaf Wilhelmer, dem federführenden Redakteur der jetzt seit fünfzehn Jahren existierenden Reihe, mit Verve und Wissen unterstützt.
In der jüngsten Folge, am vorigen Sonntag gesendet und jetzt für ein Jahr online, sind auch Komponisten selbst als Interpreten zu erleben, als komponierende. Es geht um Claude Debussy und Maurice Ravel (Foto oben, 1925) und eine singuläre Koinzidenz in der Musikgeschichte. Dass Anfang 1913 die Nouvelle Revue Française eine erste Gesamtausgabe der Gedichte von Stéphane Mallarmé publizierte, dass beide Komponisten diesen Dichter noch persönlich gekannt (und auch schon auf den Spuren seines Werks gearbeitet) hatten, erklärt bei weitem nicht, warum sie sich im selben Jahr unabhängig voneinander entschlossen, je Trois Poèmes de Stéphane Mallarmé zu komponieren – und dabei für die ersten beiden auch noch exakt die selbe Wahl trafen!
Aber sie taten es, Ravel für Stimme und Ensemble, der um dreizehn Jahre ältere Debussy für Stimme und Klavier. Und so kommt man den kreativen Persönlichkeiten der beiden Komponisten und deren fundamentalen Unterschieden so nahe wie sonst nie – wie bei einer Triangulation, bei der es in diesem Fall nicht um Winkel, sondern um Blickwinkel geht und mit Hilfe des „Fixsterns“ Mallarmé die Positionen der Komponisten deutlich werden. Man fragt sich natürlich, was die beiden gegenseitig von ihren Mallarmé-Mélodies hielten. Aber beider Korrespondenz lässt nicht mal darauf schließen, dass sie die Noten (immerhin im selben Verlag Durand erschienen) auch nur durchblätterten. Was dafür Strawinsky tat, bei dem, in Clarens, Ravel das erste seiner Lieder geschrieben hatte.
Das „match Debussy-Ravel“, wie letzterer amüsiert die Doppelung nannte, findet nun also endlich statt. Aus einer Passage, die im Buch Flammen wenige Seiten beansprucht, wurde eine der aufwändigsten Arbeiten, die ich je für die „Interpretationen“ machte. Zu hören sind dabei, der Sängerchronologie nach: Suzanne Danco, 1954, in der ersten Aufnahme des Ravel-Triptychons, Janet Baker mit der zweiten, 1966, dann 1971 Bernard Kruysen mit der Debussy-Erstaufnahme, Felicity Palmer 1975 mit Ravel und mit dem blutjungen Simon Rattle am Pult, 1977 vom 52jährigen Pierre Boulez gefolgt, der die verheerende Aussprache der Solistin Jill Gomez nicht korrigiert. 1979 singt Elly Ameling Debussy wie 1981 auch Margaret Price. 1983 setzt Felicity Lott Maßstäbe mit Ravel, 1996 folgt ihr Anne Sofie von Otter. François Le Roux nimmt Debussy 1999 auf. Das 21. Jahrhundert startet in meiner Auswahl 2003 mit Sandrine Piau, der 2012 ebenfalls mit Debussy die unvergleichliche Stella Doufexis folgt und 2014 Magali Léger, deren Pianist an Debussys Blüthner spielt, 1905 erworben und bis zuletzt, bis 1918 also, das Instrument des Komponisten. Jüngste Aufnahme: Ravels Soupir in der Fassung für mittlere Stimme und Klavier, 2021 von Stéphane Degout gesungen.
Die allerjüngste Aufnahme freilich ist nicht mal eine Woche alt, und sie gilt den Originaltexten. Die vier Gedichte von Stéphane Mallarmé, Soupir, Placet futile, Autre Éventail (Debussys Nr. 3) und Surgi de la croupe… (Ravels Nr. 3) hat direkt in der Studioproduktion Céline Grillon gelesen, die Übersetzungen ebenso. Bei Paris geboren, in Berlin lebend, studierte sie in Paris, Hamburg, Berlin Musik, Germanistik und Musikwissenschaft, als Hörfunkautorin von Deutschlandfunk Kultur hat sie Musik oft im Kontext von Literatur, Kunst, Zeit betrachtet – kurz, eine Idealbesetzung!
Noch mehr Radio: Gestern gesendet, ist eine Ausgabe von „A la carte“ auf NDR Kultur auch online zu hören, für die mich Friederike Westerhaus zu Büchern (nicht nur „Flammen“) und Werkstatt befragte und für die ich die passende Musik aussuchen durfte – von Debussys Gollywog’s Cakewalk, gespielt von Arturo Benedetti Michelangeli, bis zu Johann Christoph Bachs Kantate Es erhub sich ein Streit, gespielt vom Ensemble Cantus Cölln.
Diese wunderbare Formation hat vor nun elf Tagen ihr letztes Konzert gegeben, im katalanischen Städtchen Vic, wo man – außerhalb des gut besuchten L´Atlàntida, eines 2010 eröffneten Kulturzentrums am Stadtrand – schon die unermessliche Weite und Verlassenheit spüren kann, von der Sergio del Molino in seinem bahnbrechenden Buch Das leere Spanien (2016, jetzt ins Deutsche übersetzt) erzählt. Auf mehr als der Hälfte der Fläche Spaniens leben gerade mal knapp 16 Prozent von 46,4 Millionen Spaniern. In einem großen Teil des Landes ist fast kein Mensch anzutreffen, während die größeren Städte vor Leben brodeln. Eine davon ist Bilbao im baskischen Norden, und dort gaben wir das vorletzte Konzert, wie neulich schon angekündigt, in der Sociedad Filarmónica da Bilbao. In Künstlerzimmern und Korridoren ist man dort umgeben von Musikerfotografien seit 1896, und dort fand ich auch, wie erhofft, Maurice Ravel.
Er hat in diesem Saal am 10. November 1925 eigene Werke dirigiert, und dem Foto, das er für die Sociedad signierte, sieht man an, dass er sich dort als Komponist gesehen wissen wollte: Statt Frack ein lässiger Dreiteiler mit Einstecktuch – kein einziger Dirigent auf den hunderten von Fotos dort wirkt so cool wie Maurice Ravel, zu der Zeit 50 Jahre alt. Wie es ist, mit solchen Geistern in der Nähe alle Bachmotetten zu spielen, vor hellwachem Publikum sämtlicher Altersgruppen ab 17, um später vor einer Tanzbar zu landen, aus der ABBA-Hits in die laue Nachtluft knallen? Naja, es war alles andere als eine Trauerfeier…