Eine Wahrnehmende

Die Musik von Younghi Pagh-Paan für Flöte, Gitarre, Sopran führt durch ein ganzes Leben zwischen Identitätssuche und Offenheit

Was ist das für ein Fluss, an dessen Ufer diese Flöte spielt? Der in ihren Tönen funkelt, sprudelt, über dessen Fließen die Töne atmen, Gedanken werden oder Vögel oder Blicke? Freiburg in allen Ehren, aber das brave badische Flüsschen, das mit dem Titel Dreisam-Nore geehrt wird – Nore ist das koreanische Wort für Lied -, verweist eher auf den Entstehungsort als auf den Horizont dieser Musik. An diesem Horizont erscheint eine andere Stadt, 8500 Kilometer weiter gen Sonnenaufgang und 70 Jahre zurück, Kindheit der Komponistin: Cheongju im Süden Koreas, mit einem Fluss, einem Markt. Geruch von Tieren, Gewürzen, Klänge von Spielleuten, bei denen Ton und Geräusch zusammengehören.

An diesem Horizont erscheint aber auch, dem Europäer näher, ein Stück aus dem Jahr 1913, ebenfalls für Soloflöte, Syrinx von Claude Debussy, und er fragt sich, wie es zugeht, dass Younghi Pagh-Paan 1975 ein Stück schreiben kann, das ebenso frei und schön, so selbstverständlich und natürlich wirkt und dabei auf der Höhe seiner Zeit ist. Flatterzunge, Pizzicato und Glissando mit den Lippen, Klappengeräusch mit Ton, nur Luft ohne Ton, vierteltönige Anhebungen und Senkungen, all das gibt es nicht bei Debussy. Aus all dem hätte freilich auch eine Fleißarbeit werden können, in der jemand den Fundus der westlichen Avantgarde durchbuchstabiert. Stattdessen: Eine Befreiung.

Die fand in der Stadt an der Dreisam statt, in der es der DAAD-Stipendiatin zuerst den Atem verschlagen hatte, wortwörtlich. Als 29-jährige sah sie sich umgeben von Kommilitonen Anfang 20, Hochbegabten wie Wolfgang Rihm, neben denen sie sich, nach immerhin sechs Studienjahren in Seoul, vorkam wie „nichts und nichts“. Younghi bekam Atemnot, und es war auch die Arbeit an dieser Musik für die atmende Flöte, die ihr half – und die Entdeckung, die Entwicklung einer Identität, zu der das Eigene und das Fremde gehören, bis heute. Und es ist auch eine weibliche Identität. Die Frauenstimme, für die Younghi Pagh-Paan gern und überwiegend schreibt, spricht auch für sie selbst.

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Aber nicht unbedingt von ihr selbst. Flammenzeichen, 1983 zur Erinnerung an die Hinrichtung von sieben Widerständlern der „Weißen Rose“ komponiert,  lässt sich hören wie ein fiktiver Monolog von Sophie Scholl, wobei die Textfragmente unterschiedliche Quellen haben – Korrespondenz, Flugblätter, Gerichtsprotokolle, die Bibel. In Abbrüchen des Gesangs und der Sprache , Zerfetzungen, Reduktion auf Konsonanten wird zu Beginn der ungeheure Druck spürbar, gegen den die hier sich Äußernde angeht. Indem manche Worte immer wieder anders gesprochen, gesungen, geflüstert werden, entdecken wir die ganze Kraft, mit der sich Sophie Scholl 1943 vor dem Volksgerichtshof zum Widerstand bekannte: „Einer muss ja doch mal schließlich damit anfangen.“

Den Weg durch den Monolog bis hin zum Tod, den der Abbruch des Wortes „Flugblätter“ vor der letzten Silbe markiert, ist akzentuiert durch kleines Schlagzeug. Diese Kombination geht zurück auf den Pansori, einen volkstümlichen epischen Gesang Koreas, bei dem der Sänger von einem Trommler begleitet wird. Die Sängerin in MA-AM von 1990 hat ihrerseits Claves dabei, Klanghölzer, knapp und sparsam eingesetzt zu einer Liebesklage von archaischer Intensität. Nichts Gebrochenes hier, sondern komprimierter Ausdruck der Trauer um einen Geliebten. Es ist eine jener Opernszenen ohne Oper, wie man sie auch in Schönbergs 2. Streichquartett findet, in der „Litanei“.

Wieder drei Jahre später macht die Komponistin Rast in einem alten Kloster. Anlass ist das Gedenken an John Cage, der 1992 mit 79 Jahren starb, Vorlage ist ein fast 1000 Jahre altes chinesisches Gedicht, das Günter Eich übersetzt hat. Der Komponistin schwebt eine „in Ruhe fließende Klanglichkeit“ vor. Es ist manchmal gut, die Kommentare von Komponisten erst nach dem Hören zu lesen wie der Autor, dem das Stück, mit geschlossenen Augen und Kopfhörern erlebt, überaus aufregend vorkam. Gleichsam vom Ton der Bassflöte aus hörend, sah er die Musik zugleich auf sich zukommen, wie jemand, der in der Dämmerung durch einen Blättertunnel, einen dicht umwaldeten Pfad entlang geht, voller Unberechenbarkeiten – Tiere huschen dicht vorbei, man erschrickt vor einer Fledermaus; „kurz mit Stimme einatmen“ klingt wie ein Schreckatmen.

Diese Spielanweisung ist eine von knapp zwanzig, die seit Dreisam-Nore dazugekommen sind in Pagh-Paans Umgang mit der Flöte. Pfeifen zum Ton, multiphonics, weites und enges Vibrato, Konsonanten, die während des Spiels ins Mundstück geflüstert werden – und das alles in einer extrem differenzierten, quasi sekündlich wechselnden Dynamik. Kein Wunder, dass aus gerade mal vierzehn Takten in knapp vier Minuten etwas Aufregendes werden kann, unabsichtlich im tieferen Sinne, ohne Absicht, ganz im Sinne von John Cage. Die Komponistin selbst scheint die Musik auf sich zukommen zu lassen.

Damit ist man bei einer besonderen Qualität ihrer Musik, ihrer kreativen Position. Pagh-Paan ist auch eine Wahrnehmende. Die Worte, Situationen, Naturphänomene, Gestalten, Gedanken, auf die sie sich einlässt, werden vom Werk nicht vereinnahmt, sondern darin erkundet. „Männer nehmen die Welt nicht wahr, weil sie selber glauben, sie seien die Welt“, so lautet ein Satz von Virginia Woolf, der davon nicht unerheblicher wird, dass er zu ihren meistzitierten zählt. Egozentrik ist zwar weder Männern vorbehalten, noch trübt sie jedem von ihnen den Blick, aber sie sitzt tief in den westlichen Gesellschaften, und mit Pagh-Paans Musik öffnet sich eine andere Perspektive.

In Hang-Sang II von 1994 geraten wir ganz beiläufig in einen offenen Raum, so transparent wie kohärent. Was Altflöte und Gitarre spielen (wozu perkussive Elemente auf dem Korpus des Zupfinstruments kommen), ist mit solcher Genauigkeit und Sensibilität gewoben, dass die enorme Handwerkskunst in lichte Klarheit umschlägt. Wir lernen ein ruhiges Sehen zwischen ihren Zeichen, unmerklich geführt von Verbindungen. Ein Gitarrenarpeggio etwa (Takt 31 Track 4 ab 3:10) ) endet leise auf dem E, das dann die Flöte über ein Es erreicht – und so etwas erschließt sich nicht erst beim analysierenden Lesen, sondern unmittelbar, ohne dabei doch zu wichtig zu werden. Diese Musik bleibt so offen, dass beim Hören auch zwei Glockenschläge einer nahen Kirchturmuhr – der Autor saß am offenen Fenster – ohne weiteres sich mit ihr verbanden.

Rose Ausländer scheint ihre späte Lyrik für diese Komponistin geschrieben zu haben: „wandelbar / Orte wandelbar / in der Zeit / die alles namhaft macht“, das ist nahe der daoistischen Vorstellung von der Zeit als etwas Stillstehendem, durch das wir ziehen. Ausgerechnet im Medium der Musik, die nur hörbar werden kann, indem sie sich in der Zeit bewegt, ist es möglich, Zeitstille entstehen zu lassen. Es gelingt in Noch…III, weil die Komponistin jedes Wort als Zeichen, als Symbol erkundet. Dieses Gedicht ist kein Redefluss, die Worte stehen einzeln da, in einer Weite, in die mitunter die Gitarre ganz allein aufbricht. Ebenso kann die Gitarre als Gegenüber das Wort „Erde“ auf die einfachste Weise unterstreichen: mit ihrem tiefsten D, durch einen Triller verbreitert.

Aber wie in aller Welt findet man Töne für das Wurzelwerk von Seerosen, und warum? Ein Sprung von mehr als zwanzig Jahren führt uns von Noch…III ins Jahr 2018, zu einer Künstlerin, einer nun 72-jährigen, die erstmals von ihren Gefühlen als junge Frau spricht – im Kommentar zu Seerosen – Wurzelwerke. „Die Blüte war zu schön für mich“, schreibt Younghi Pagh-Paan. „Ich hatte mich selbst fast mit dem Wurzelwerk identifiziert: Es hat keine Gelegenheit, seine ganze Gestalt vor dem Sonnenschein zeigen zu dürfen. Das war sein Schicksal, wie auch viele Frauen in solch einer Situation leben mussten.“

Die zehn Minuten für die koreanische Zither Geomungo, auch auf der Gitarre zu spielen, sind Natur so, wie Claude Debussy sie als „Entwicklungslehre“ empfahl, „mit dem Herzen gesehen“, aber nicht als Folie für ein Bekenntnis. Sparsame Töne, immer wieder auf die beiden tiefen leeren Saiten E und A zurückfallend, Spielarten vom Akzent über Bindungen und Glissandi bis zu Tremoli – es ist, als würde man einem nachdenkenden Sehen zuhören. Man sieht durchaus die Ranken in schattigem Wasser, aber da ist auch so etwas wie eine sinnliche Abstraktion, die Geist und Seele öffnet. Und vielleicht auch eine Blüte.

Zwei Jahre später folgt dann doch eine Art Bekenntnis, ein „Ich“. Zunächst einmal ist es das Subjekt im Gedicht „mein herz“ des österreichischen Dichters HC (Hans Carl) Artmann. Seiner wunderbaren ersten Zeile „mein herz ist das lächelnde kleid eines nie erratenen gedankens“ folgen Metaphern, die an das europäische Fasziniertsein durch fernöstliche Ästhetik um 1900 denken lassen – ein Bogen aus Elfenbein, leuchtend gelbes Wasser aus einer Smaragdschale. Da hinein intarsiert die Komponistin die koreanischen Worte „ne ma-um“ für „mein Herz“. Mit ihnen schreibt sie das Stück auch werkbiografisch auf sich zu, denn in Rhythmik und Linienführung greift sie die Liebesklage von 1990 auf, die ebenfalls mit „ne ma-am“ (dieselbe Bedeutung: „mein Herz“) beginnt.

Während die aber expressiv, zerrissen, fast etwas wütend war, entfaltet die Frauenstimme nun große Bögen in Freiheit und Schönheit, mit – in erster Version – einer Viola als durchaus eigensinnigem Begleiter, aus dem in zweiter Version mit Gitarre, dem Instrument entsprechend, ein zurückhaltenderer wird, eine Art Zeichner, der um den Flug der Stimme herum sparsam die Landschaft des Herzens schraffiert und aquarelliert, der aber auch reagiert und hilft. Von allen Stücken Pagh-Paans ist Mein Herz vielleicht das melodischste, was umso deutlicher wird, wenn am Ende die Worte „mein Herz“ nur geflüstert werden – das hat auch etwas Abschließendes nach dem großen Leuchten.

Der Titel des jüngsten Werkes wegen der Leere, 2022, mag einen da zuerst erschrecken. Es wird aber kein entleertes Herz beklagt. Es geht um zwei Betrachtungen von Laozi, die dem Dao gelten, dem Schöpfungsprinzip, aus dem in der chinesischen Philosophie die Welt entspringt. Eine Leere, die gefüllt wird wie die eines Wagens, eines Kruges, eines Hauses, oder auch nie gefüllt werden kann wie die eines Abgrunds, der gerade deswegen „urahn von allem“ ist. Zum Ermessen dieser Gedanken tun sich drei Akteure eng zusammen, Flöte, Sopran, Gitarre. Keine Seelenbögen hier, kein sinnender Blick auf die Welt, die Töne bilden eher ein Geländer zum Festhalten in ungewisser Zwischenwelt. Der Ambitus erstreckt sich über mehr als fünf Oktaven, final zusammengefasst in einem D-Dur-Akkord. Doch bei seiner statischen „Leere“ bleibt es nicht. Mit letztem Atem neigt die Sopranistin ihr A zum As. Da keimt schon Neues.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für die CD “Listening with the heart – Mit dem Herzen hören”, erschienen bei Kairos im November 2022. Das Foto der Komponistin machte Min Kyu Park 2021. Das Booklet mit der englischen Übersetzung von Laurie Schwarz ist hier zu finden.