“Leute wie ich sind Brücken…”

Zoom nach Pesaro: Maestro Donato Renzetti, 72, erzählt von Italiens Opernblütezeit und der Liebe seines Lebens

«Dii-daa-ba-ba-ba-daa-daa…» Wenn ich mit etwas nicht gerechnet habe bei diesem Gespräch, dann damit, dass mir ein 72 Jahre alter italienischer Dirigent nach zwei Minuten den Imperial March aus Star Wars vorsingt. Aber das tut er, tausendvierhundert Kilometer entfernt von mir, in Pesaro sitzend. Dass einer wie Donato Renzetti seinen Rossini, Verdi, Puccini rauf und runter kennt, ist klar. Aber John Williams? Nun, der ist nicht so weit davon entfernt. Bis vor einer halben Stunde hat der Maestro ein Programm mit Dvořák, Gershwin und eben der Musik aus Star Wars geprobt, für ein Konzert im nahen Macerata – und bei der Gelegenheit festgestellt, dass Williams’ Thema wie das berühmte Duett aus Puccinis Manon Lescaut beginnt: «Nell’occhio tuo profondo». Das singt er gleich vor.

Zugeschaltet ist auch Ettore Volontieri, der junge Agent des Maestro, zum Übersetzen. So kann Renzetti in seiner Muttersprache etwas weiter ausholen als auf Englisch. Ein heiteres, breites, braungebranntes Gesicht hat er, wellige weisse Haare bis fast zu den Schultern, und die entspannte Stimme eines Genießers. Ich habe bald das Gefühl, mit ihm auf einer Piazza zu sitzen, während er mit Vergnügen die Spurensuche fortsetzt. Puccini seinerseits, tief beeindruckt von Strawinsky, habe die letzte Arie der Liù seiner Turandot aus dem Sacre du printemps geholt, «Tu, che di gel sei cinta». Man kann es in der Sacre-Partitur nachlesen: Flöten und Bratschen bei Ziffer 50. Nein, kein Plagiat, eher eine kreative Verneigung. Und dann gebe es da in Turandot noch einen Gruss an Igor S., zwei Fünf-Achtel-Takte, singulär im italienischen Opernrepertoire bis dahin.

Wenn das so weiter geht, werde ich in dieser Stunde gar nicht mehr erfahren, wie Renzetti selbst zur Oper, zur Musik gekommen ist. Aber als er zu La bohème erwähnt, dass er in Karajans berühmter Produktion 1963 an der Scala mitgespielt habe, als Schlagzeuger, stutze ich. Mit dreizehn??? «Er war der jüngste Orchestermusiker in ganz Europa», wirft Ettore ein. Nun muss der Maestro noch weiter ausholen und erklären, wie es dazu kam, dass er als Siebtklässler aus der tiefsten Provinz, einem Städtchen in den Abruzzen, im Orchestergraben des Haupttempels der italienischen Oper landete. «Schlagzeugspielen war in meinem Körper von Anfang an», meint er, «in meiner Familie waren alle Schlagzeuger.»

Schon sein Vater war mit der Banda grossgeworden, einem Blasorchester aus Amateuren, wie es sie in unzähligen italienischen Kleinstädten gab. Torino di Sangro, etwa auf der Höhe von Rom nahe der adriatischen Küste gelegen, hatte 3000 Einwohner, und in der Banda spielten 70 davon. «Daran sehen Sie, wie wichtig in der Provinz die Musik war, kultiviert auf populäre Weise. Wenn wir Opernthemen spielten, wurden die Gesangspartien von Trompete und Posaune übernommen. Das ist eine sehr alte Tradition im Zentrum und im Süden Italiens.» Hier also entfaltete sich Donatos Perkussionstalent in Mozartschem Tempo, hier antwortete schon der Grundschüler auf die Frage nach «il tuo futuro»: «Ich will Dirigent werden und nach New York.»

Bei dem Vorhaben blieb er auch als Gymnasiast, zum Entsetzen des Vaters. Der wünschte seinem Sohn, bei allem Talent, «einen soliden Beruf, etwas in der Wirtschaft». Es war die Mutter, die Donato heimlich beim Konservatorium in Mailand anmeldete. Schlagzeug brauchte er ja nicht mehr zu studieren, dafür Klavier, Violine, Komposition, Dirigieren. Sein erstes Dirigat ergab sich, als der Leiter eines Mailänder Sonntagsorchesters aus Amateuren, in dem Donato Renzetti als Schlagzeugprofi mitwirkte, nicht zur Probe erschien. «Sie wussten, dass ich Dirigieren studierte, also baten sie mich, einzuspringen. Daraus wurden fünf Jahre, in denen ich dort dirigierte und Erfahrungen machen konnte.»

Unterdessen wurde er in den späten 1960ern als Schlagzeuger zunehmend gebraucht bei zeitgenössischer Musik. «Die Orchester waren darauf nicht vorbereitet, es war ein großes Glück für mich, dauernd gefragt zu werden. Ich spielte John Cage, Iannis Xenakis, Luciano Berio… Das hat mir Spaß gemacht. Ob es für die Zuhörer auch ein Spaß war, da bin ich nicht so sicher.» Mit 27 Jahren hatte er sein Dirigentendebüt an einer richtigen Bühne: Rossinis Il signor Bruschino in Bologna. Bei der Gelegenheit verliebte er sich in die argentinische Sopranistin Silvia Baleani, und umgekehrt, und für immer. «Es ist auch traurig, davon zu sprechen», sagt er. «Ich habe sie vor zwei Monaten verloren, nach 45 Jahren. Und das erste, was ich nach ihrem Tod zu dirigieren hatte, war… Bruschino!»

Ich habe mir Silvia Baleanis Carmen auf YouTube schon vorher angehört, grossartig. Wie viele aus dieser Generation hat sie eine besondere, mühelose, bezwingende Wucht und Persönlichkeit, die man heute nicht oft findet. Warum eigentlich nicht? «Italien», sagt ihr Mann, «hatte eine unbeschreibliche Vielfalt. Jedes Städtchen hatte ein Theater und wollte eine Oper produzieren. Es fehlten die Mittel, also gab es nur ein, zwei Tage Probe. Unglaubliche Möglichkeiten für unerfahrene Sänger, sich auf der Bühne zu präsentieren. Piero Cappuccilli erzählte mir, dass er vor seinem Debüt als Rigoletto an der Scala die Rolle schon 350 Mal in kleinen Theatern gesungen hatte. So hatte er Zeit, die Rolle zu formen.» Diesen Nährboden gebe es nicht mehr.

Doch Renzetti ist nicht nostalgisch. «Leute wie ich sind Brücken von dort in die Zukunft.» In den 45 Jahren seit seinem Debüt ist ungeheuer viel passiert. Der Wunsch des Grundschülers wurde wahr. Er wurde ein international gefragter Orchesterleiter. Er kam nicht nur bis nach New York an die MET, sondern weiter, nach Dallas, Chicago, San Francisco, Buenos Aires, Tokio und alle bedeutenden Häuser. Drei Jahre später ergriff der Mann aus den Abruzzen seinen dritten Beruf. Donato Renzetti begann, sein Dirigentenhandwerk als Lehrer weiterzugeben. Die Dreijahreskurse, die er seit 1986 in Pescara unfern seines Geburtsorts gab, zogen bald die Talentiertesten an.renzetti

Renzetti (2. Reihe, 2. v.l.) unterrichtet online: Screenshot eines Zoom-Meetings 2020

1992 kam ein Konservatoriumsabsolvent zu ihm, «etwas schüchtern, sehr ernst und sehr gut vorbereitet.» Renzetti nahm ihn im Auto mit von Milano nach Pescara. «Ich spielte ihm auf der Fahrt Pop vor, musica leggiera, denn er sprach nur über klassische Musik. Er brauchte einen breiteren Horizont.» Der junge Mann, Gianandrea Noseda, heute Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich, wurde einer seiner besten Schüler. Zum Dirigieren, sagt Renzetti, gehört nicht nur die Technik, die als «Skelett» für jeden in dem Beruf unabdingbar sei, sondern auch die Kenntnis der sozialen und politischen Bedingungen der Musik, des Kontexts, der Biografien. Ganz wichtig ist ihm, dass seine Schüler sich nicht nur mit Opern befassen, sondern auch mit dem sinfonischen Repertoire. Und mit der Vielfalt der Musiksprachen. «Ich glaube nicht an Spezialistentum. Ein Dirigent muss viele Stile kennen. Man kann nicht alles gut machen, aber alles verstehen. Und natürlich kann ein deutscher Dirigent grossartig italienische Opern dirigieren. Umgekehrt ebenso.» Womit wir bei zwei noch unerfüllten Träumen von ihm wären: Tristan und Isolde, «Tristano», wie er sagt, und Pelléas et Mélisande.

«Ich bin noch jung», sagt der 72-Jährige lachend, um dann klarzustellen: «Diese Opern kapiert man nicht als junger Mann. Man braucht Reife, die Erfahrungen des Lebens.» Aber Wagner und Debussy sind nicht die Komponisten, mit denen er am liebsten essen ginge. «Das kann nur Rossini sein», sagt er und erzählt eine Geschichte. «Rossini hat zweimal in seinem Leben geweint. Einmal, als seine Mutter starb, der er immer schrieb, während er komponierte. Das andere Mal, als er in Paris einen fantastischen Truthahn zubereitet hatte, un tacchino, und der Braten vom Boot in den Fluss fiel. Für ihn war die Küche so wichtig wie die Mutter!» Für Renzetti wäre Rossini jetzt wohl noch aus anderen Gründen ein willkommener Tafelfreund. Zum einen sitzt der Maestro ja in der Geburtsstadt des Komponisten. Und zum anderen verdankt er ihm die Liebe seines Lebens.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 94 der Oper Zürich, September 2022, sowie online.