8. September 2022

> „Der Zeitpunkt der Veröffentlichung von Flammen fällt 2022 zusammen mit gegenwärtigen Kriegsereignissen und europaweiten Spannungen, was der Lektüre eine ungeheure Brisanz verleiht“, schreibt Anja Kleinmichel im aktuellen Leiziger Kreuzer. „Umso beklemmender lesen sich die Dokumentation kriegstreiberischer Manipulation vor dem Ersten Weltkrieg und deren wirkungsvolle Verblendung von Intellektuellen und Künstlern.“ Noch etwas hebt sie hervor, was in rund 30 gedruckten und gesendeten Rezensionen bislang kaum in den Fokus geriet: „Immer wieder macht der Autor Frauengestalten mit ihrem schlummernden Potenzial sichtbar. Bei Ethel Smyth erfährt es seinen ungehemmten Durchbruch.“

Smyth, die in Leipzig 1877 bis 1881 prägende Jahre erlebte und Brahms, Grieg, Tschaikowsky persönlich kannte, deren wichtigste Oper The Wreckers hier 1906 uraufgeführt wurde, wird in dieser Stadt seit neuestem mit einer Gedenktafel gewürdigt. Über ihre Begegnung mit Johannes Brahms spricht die Komponistin im O-Ton am 18. September, 15 Uhr, auf Deutschlandfunk Kultur. Dort nämlich wird die zweistündige Sendung Die Brückenbauerin wiederholt (und für ein Jahr online gestellt), ein diskographisches Porträt mit der Smyth-Expertin Marleen Hoffmann als Studiogast. Hoffmann referiert auch beim Smyth-Symposion, das am 25. September in der Berliner Philharmonie stattfindet, unmittelbar vor der ersten deutschen Wreckers-Aufführung seit 1906 (eine von Bruno Walter für das Frühjahr 1915 in München geplante Produktion scheiterte am Krieg). Nun sind die Wreckers vollständig konzertant zu erleben; Robin Ticciati dirigiert das DSO Berlin.

Einen Tag danach ist im Literarischen Salon der Leibniz Universität Hannover ein Satz aus Ethel Smyths Streichquartett e-Moll von 1902 / 1913 zu hören (neben Debussy und Hindemith), gespielt von Musikern der Staatsoper Hannover, die diesen Abend zu Flammen mit dem Autor und der Moderatorin Swantje Köhnecke gestalten. Thematisch in der Nähe bewegt sich Salon Wittgenstein in der Alten Oper Frankfurt am 18. September. Rund um die Wiener Familie, der Philosoph Ludwig und Pianist Paul entstammen, entsteht ein inszenierter Konzertabend in Traumbesetzung: Zu Eva Mattes und Ulrich Noethen als Sprecher kommen das Kuss Quartett, Klarinettist Sebastian Manz und Pianist Cédric Pescia, der die linkshändige Partie in sonst kaum je live zu hörenden Werken wie etwa Korngolds opus 23 für zwei Violinen, Cello und Klavier übernimmt, komponiert für Paul Wittgenstein, der bei seinem ersten Kriegseinsatz am 23. August 1914 seinen rechten Arm verlor.bros wittgenstein

Ludwig (links) und Paul Wittgenstein beim Notenlesen, Wien 1909 (Quelle: ÖNB)

„With an all-forgiving peace“ lautet die gleichsam programmatische Satzbezeichnung eines Werks, das zu Beginn dieses Jahres vollendet wurde und am kommenden Sonntag, 11. September, von seinen Widmungsträgern uraufgeführt wird: Cembalist Mahan Esfahani, das Gürzenich Orchester Köln und sein Chefdirigent FX Roth interpretieren Standstill, ein Werk des 1975 geborenen Prager Komponisten Miroslav Srnka. Welche Rolle dabei Eierschneider spielen, warum das Cembalo auch ein digitales Instrument ist – dazu habe ich ihn befragt. Wobei sich herausstellte, dass Srnka Bruckner als Nachbarn im Konzert sehr schätzt – dessen Dritte Sinfonie wird hier in der Erstfassung gespielt.

Noch mal zu Flammen: Die jüngste Besprechung, ein Fünfspalter in der FAZ vom 2. September, ist eine ausgreifende Würdigung und inspiriert zugleich zum Nachdenken über Genre-Grenzen. Andreas Meyer gefällt im Falle Debussys „ein subtiles Porträt des von privaten Sorgen und Geldnöten umstellten Komponisten“, er würdigt „Kabinettstückchen der Kunst, in wenigen Worten den richtigen Ton zu treffen und Präsenzeffekte zu erzielen“. Zugleich hadert der Rezensent mit „einer Nähe, die es nach über hundert Jahren nicht geben kann“, und den literarischen Techniken, denen sich Präsenz und Nähe mit verdanken. Dazu gehört das Zusammenführen authentischer Zitate zu fiktiven Dialogen, die im Anhang aufgeschlüsselt werden (vgl. Blog vom 21. April 2022).

Sachbuchautor*innen in Deutschland können immer noch froh sein, wenn der Einsatz belletristischer Mittel nicht gleich als „Fabulierlust“ diskreditiert wird. „Literatur“ muss dagegen wenigstens formal fiktional sein. Es wäre hier kaum denkbar, dass ein Autor, der z.B. Hitlers Weg von 1933 bis 1938 in dichter Prosa faktengetreu erzählt und reflektiert, dafür einen so renommierten Literaturpreis wie den Prix Goncourt erhielte, den Éric Vuillard 2017 für eben dies Unterfangen (Die Tagesordnung) bekam. Ein deutscher Rezensent würdigte ihn dafür als „Trüffelschwein im Wald der Geschichte“. Ist dieser Wald den ordentlich geharkten Beeten der Historiker vorbehalten und jeder, der sich ihm mit anderer Perspektive und anderen Mitteln nähert, verdächtig?

sartre

Im Niemandsland zwischen “Sachbuch” und “Literatur”? Jean-Paul Sartre 1965

Im englischen Sprachraum ist narrative nonfiction ein respektiertes Genre im Grunde seit Kaltblütig (1965), vom Autor Truman Capote als „nichtfiktionaler Roman“ bezeichnet und den „New Journalism“ befeuernd. In Deutschland aber hat sich Elke Heidenreich neulich nicht etwa gefreut, dass ihr Buch mit autobiografischen Erzählungen auf die Spiegel-Bestsellerliste kam, sondern laut geärgert, dass es da als „Sachbuch“ einsortiert wurde, nicht als „Literatur“. Diese Kategorien samt latenter Hierarchie wirken rückständig 57 Jahre nach Kaltblütig und 26 Jahre nach Márquez´ Nachricht von einer Entführung, einer 450-Seiten-Reportage, deren literarischer Rang von egal welcher Bestsellerliste aus gesehen nur zu erkennen ist, wenn man den Kopf in den Nacken legt.

Aber nein, „der Unterschied zwischen Literatur und Sachbuch ist keine Kleinigkeit. Er verändert die Art, wie man einen Text betritt.“ So zitiert die Süddeutsche Zeitung Heidenreichs Verleger Jo Lendle. Da wird das Sachbuch tendenziell zum Kochbuch – alles gecheckt für den praktischen Einsatz -, und alles ohne Quellennachweis ist Literatur und steht unter Genieverdacht. Natürlich braucht man Orientierung, aber lesen können wir selbst. Die Abteilungen „Fiktional“ und „Nicht fiktional“ würden genügen. „In einen Toten tritt man ein wie in eine offene Stadt“, allein dieser Satz aus einem der gewaltigsten nichtfiktionalen Werke (Sartres Idiot der Familie) reisst jeder gated community den Zaun weg.