In der Stille wimmelt es von Leben

Im neuen Biotop: Miroslav Srnkas Cembalokonzert „Standstill“ für Mahan Esfahani, François-Xavier Roth und das Gürzenich Orchester Köln

Eierschneider und Sinfonieorchester gehörten bislang getrennten Welten an. Wenn es einen gibt, der sie verbinden kann, ganz ernsthaft und den Horizont erweiternd, dann ist das Miroslav Srnka. Jener 1975 in Prag zur Welt gekommene Komponist, dessen Musik längst auf erlesensten Podien gespielt wird, dessen antarktische Oper South Pole 2016 an der Bayerischen Staatsoper München eine aufsehenerregende Uraufführung erlebte und der seinen Erfolg nicht zuletzt der Genauigkeit und Integrität verdankt, mit der er seine Vorstellungen umsetzt. Eierschneider also. Sie gehören zur Ausstattung der Geiger*innen, Bratscher*innen, Cellist*innen, die in der Kölner Phiharmonie mitsamt Bläsern Schlagzeugern, mit Klavier, Akkordeon und, natürlich, dem Solisten Standstill uraufführen werden, ein Konzert für Cembalo und Orchester.

In Takt 7, wenn im Cembalo schon etwas begonnen hat, was wir hier nicht verraten wollen, greifen die Streicher nicht zu den Bögen, sondern zu den „Harfen“, besser gesagt Härflein jener „hard boiled egg cutter“, von denen die Halteschalen entfernt wurden, drücken sie mit einer Ecke so an den klangverstärkenden Korpus ihres Instruments, dass sie weder Kratzer hinterlassen noch verrutschen, und spielen Arpeggien auf den dünnen, kurzen Stahlsaiten. So kommt das Orchester von Anfang an dem Cembalo entgegen, das gegenüber einem sinfonischen Ensemble eigentlich keine Chance hat. Ein Klang, den sich Miroslav Srnka als „Schneeflockenrauschen“ vorstellt, und zu dem sich bald Akkordeon, Vibrafon, Marimba gesellen. Ein leiser, ferner Klang.

Und einer des Friedens. „With an all-forgiving peace“ steht am Beginn und gilt für alle 573 Takte des Werks, das Anfang 2022 vollendet wurde. Das mag überraschen, wenn man sich ansieht, welche Rasereien dem Cembalisten bald darauf abverlangt werden: Arpeggien, Sprünge, Skalen in 32teln bei Tempo 112, das sind 15 Töne pro Sekunde, teils mit Klarinette und Schlagzeug gekoppelt, während bis zu 35 verschiedene Streicherstimmen ein penibel geknüpftes Gewebe bilden. Doch das wird nicht lauter als piano, und aus Staffelungen und Ballungen wird kein Drama. Sie scheinen, wenn man durch die Partitur blättert, eher Flächen zu bilden. Bewegung wird Statik – oder eben Standstill.

„Eine Struktur kann reich sein und trotzdem Leere beinhalten“, sagt Srnka, „und es kann eine Stille geben, die inhaltsvoll ist.“ Diese Pole seien organisch verbunden, und der Titel des Stücks sei in Bezug auf seine Entstehungszeit kein Zufall. Die Jahre der Lockdowns hätten ihm gezeigt, „dass auch eine völlige Stillegung etwas absolut Lebendiges sein kann.“ Stille ist aber gewissermaßen auch eine Spezialität des Cembalos. Ein Ton ist ganz da oder gar nicht, die Saite wird durch einen Kiel angerissen, dieser Vorgang ist nicht nuancierbar. „Null oder Eins, in diesem Sinne ist das Cembalo ein digitales Instrument.“ Es hat den Komponisten gereizt, die Vorzüge des Instruments zu nutzen, die extreme Trennschärfe, die wendige Mechanik, neben der die des Klaviers schwerfällig wirkt, das geräuschhaft Explosive am Anfang jedes Tons, den die Feder ins Schwingen reißt. „In dichter Bewegung kann sich das Cembalo damit gut durchsetzen und mit dem Orchester verknüpfen, sogar verschmelzen.“

Aber nur mit einem Orchester, das auf die Einzigartigkeit des Cembalos eingerichtet ist. Keine fließende Dynamik, kaum Schalldruck, wenige Farben – auch das sind Vorzüge, rare Eigenschaften. Um sie herum lässt Srnka jenes Biotop entstehen, als das er Musik gern sieht: „Etwas mit vielen unterschiedlichen Wesen, die alle zusammenleben müssen. Wenn sich etwas zu sehr vordrängt oder vergessen wird, ist die Balance kaputt.“ Diese Balance, die außerhalb des Konzertsaals in vieler Hinsicht existentiell gefährdet ist, ist auch ein Thema von Standstill. Zu ihr gehört, dass alle Beteiligten sich auch mal austoben dürfen. Gegen Ende schweigt das Cembalo lange, und das Orchester steigert sich in stürmische Strukturen, ehe die flüsternden Arpeggien der Eierschneider den Cembalisten zum Solo bitten, Kadenz und Ende, minutenlange Raserei ohnegleichen.

Rivalen, Wettstreitende im Wortsinn von „concertare“ sind Orchester und Solist dabei nie, im Gegenteil. Im Verlauf des Stücks entwickeln sie gemeinsam eine Energie, „die sehr stark sein kann, aber in sich ruht.“ Und da kommt Anton Bruckner ins Spiel, den Miroslav Srnka als Nachbarn für Standstill sehr passend findet. „Innerhalb des so dramatischen 19. Jahrhunderts schuf er Stücke, die nach außen auch dramatisch klingen mögen, aber in sich diese Ruhe haben. Diese absolute Konzentration, die in keinem Konflikt verlassen wird.“

Dieser Text entstand für das Programmbuch des Gürzenich Orchesters, 11.-13.9.2022, und ist urheberrechtlich geschützt.