15. Juli 2022

> Der Saal sieht so aus, wie es das Schild „GGR“ verheißt – ein fensterreicher, doch wenig charmanter „Großgruppenraum“, Anbau eines Gymnasiums aus wilhelminischer Zeit im Westen von Hannover. Aber genau hier gelang Schüler*innen und Lehrer*innen Außergewöhnliches, Ein Abend mit Herrn Debussy, ein Zusammenwirken von Buchautor und Musikern aus Abiturjahrgängen. Die Musikleistungskurse von fünf Gymnasien der niedersächsischen Landeshauptstadt hatten sich mit „Impressionismus“ befasst, ein Lehrer hatte vom Buch Flammen erfahren und eine Initiative ergriffen, wie sie – warum eigentlich? – selten ist. Frank Katemann von der Helene-Lange-Schule konnte all seine Schulmusikerkollegen in der Stadt dafür begeistern und lud mich ein, zusammen mit Schülern vor Schülern aufzutreten. Natürlich hatten sie, am Klavier, auf Klarinette, Saxophon, E-Gitarre, nicht gerade die Stücke auf Lager, um die es im Buch en détail geht, aber in Flammen geht es um so vieles, dass sich Hits von Debussy, Ravel, Satie, Ibert gut mit Textpassagen verbinden ließen. Nazcan Dogan lernte zudem ein paar Takte aus Le Sacre du Printemps auswendig, um einer Szene aus dem fünften Kapitel Klavierakzente zu verpassen. Ein Jazztrio um Luke Gosslar entführte Debussys Mädchen mit den Flachshaaren in eine risikofreudige Improvisation, mit Ravels Pavane pour une infante défunte nahmen wir Abschied von Chouchou, Debussys Tochter, die als Dreizehnjährige vermutlich der 1919 grassierenden Pandemie erlag. Es war alles andere als eine Schulveranstaltung mit Pflichtaroma, es war ein starker Abend.

So empfiehlt Igor Levit das Buch Flammen. Und Elmar Krekeler hat es kurz, aber heftig für die Welt am Sonntag vom 3. Juli 2022 besprochen. Ihm graust es vor Büchern von Musikwissenschaftlern, „denen Publikumszugewandtheit das ist, was dem Teufel das Weihwasser ist“. Was er von Flammen hält, der „Innenansicht der aufbrechenden Avantgarde“, bilanziert er so: „Könnte eine grandiose Netflix-Serie werden.“ Klaus Heinrich Kohrs sagt es in der Juliausgabe der Opernwelt (“Buch des Monats”) etwas anders. An den Nahtstellen von Dokumentation und Imagination zeige sich, „wie präzise sich Hagedorns detektivische Faktenjagd mit dem genauesten Studium von Charakteren, von deren Ästhetik und deren Idiosynkrasien zu einem dokufiktionalen Genre von hoher Stringenz verbindet.“ Sachbuch und freies Erzählen gehen hier Hand in Hand”, schreibt Christoph Vratz in der jüngsten Neuen Musikzeitung, “dies aber mit einer solchen Präsenz, mit einer fast filmischen Konkretheit und Anschaulichkeit, wie es keinem Sachbuch im strengen Definitions-Sinne jemals möglich wäre.” Eleonore Büning in den Sommerempfehlungen auf FAZ.NET am 8. Juli: “Schon zum dritten Mal wird eine Musikzeitenwende besichtigt durch diese einzigartig scharfe Hagedorn-Brille: halb Roman, halb Glosse. Liest sich weg wie von selbst.” Dafür hat sich Elke Heidenreich neulich im WDR beschwert, es komme auch ein Dominantseptnonenakkord vor. Sowas sei ihr zu wissenschaftlich.

Mit Paul Hindemith, der, wie im letzten Kapitel zu lesen, mit einem deutschen Regimentsquartett mitten im Ersten Weltkrieg ausgerechnet Debussy probte, hat die Geigerin Barbara Koerppen noch zusammengearbeitet, 1963 in Rom, wo er seine Fassung von Monteverdis Orfeo dirigierte. “Alle sagten, pass auf, der ist sehr schwierig, der Mann, aber ich fand ihn wunderbar”, sagt sie in einem Gespräch, das ich kürzlich mit ihr und dem Komponisten Alfred Koerppen führte. Ein Porträt des in Hannover und bei Rom lebenden Künstlerehepaars – mit Fokus auf Koerppens Musik – ist jetzt auf VAN zu lesen: Besuch beim Einhorn. Man kann dort auch einige Werke in Aufnahmen hören, die nirgends im Netz zu finden sind, nur auf der vergriffenen Alfred Koerppen Edition von 1995. Der eigensinnige, wunderbare Komponist ist nun 95jährig gestorben, am 5. Juli 2022.