“Wie man ein Wort ausspricht, das kann alles ändern”

Dirigent, Geiger und Sänger Dmitry Sinkovsky spricht über die Arbeit an Cavallis Eliogabalo in Zürich, sein Orchester in Russland und seinen Titelhelden aus der Ukraine

Wir sitzen neben einem Wald von schwarzen Notenständern auf der ansonsten leeren Probebühne. Arbeitslicht, Stille – puristischer geht es kaum. Auf ein Pult hat Dmitry Sinkovsky, ein kräftiger 42-Jähriger, der die Haare hinterm Kopf zum Knoten geschnürt trägt, seine dicke Partitur gestellt, ein anderes Pult habe ich mir in die Waagrechte gebogen, als Tischchen für den Kaffee. Der ist dringend nötig. Wie sich herausstellt, hat auch der Dirigent nur vier Stunden Schlaf gehabt, allerdings nicht wegen einer Zugverbindung. Er hat bis spät in die Nacht noch Wortbedeutungen im italienischen Libretto recherchiert. Was die Protagonisten in Francesco Cavallis früher Barockoper Eliogabalo singen, ist nämlich selten ohne Hintersinn…

Aber jetzt möchte ich erstmal wissen, ob er, der diese Oper musikalisch leitet, auch Geige spielen wird. Denn vor ein paar Minuten, als ein paar Schritte weiter auf der anderen Probebühne die heutige Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern und dem Regisseur Calixto Bieito endete, hat Sinkovsky noch fröhlich ein paar Akkorde angestrichen. Sein Barockinstrument hat er immer dabei. Besser gesagt, beide Instrumente, denn Countertenor ist er ja auch. «Auf jeden Fall spiele ich», meint er, «zusammen mit Luca Pianca an der Laute. Das müssen wir machen, denn diese Musik fordert viel Improvisation. Calixto möchte auch, dass ich an einigen Stellen singe, aber das lassen wir noch offen.» Er lacht. «Keiner weiss, was in einer Woche passiert. Die Proben sind ein permanenter Prozess.»

Sicher ist nur, dass, wenn Dmitry Sinkovsky spielt oder singt, er sich auf demselben hochprofessionellen Level bewegen wird wie die anderen Akteure auch. Das Label Glossa hat ihn als Interpreten von Beethovens Violinkonzert ebenso im Programm wie mit einer CD, auf der er Lieder von Sergej Akhunov singt, geschrieben für seine Stimme und die historischen Instrumente seines Ensembles «La Voce Strumentale». Bei Naïve erschien eine CD, auf der er Vivaldis Vier Jahreszeiten spielt und dazu noch eine Arie des Venezianers singt, fast unnötig zu sagen, dass er das Ganze auch dirigiert. Inzwischen dirigiert er auch Opern von Rossini, Verdi, Tschaikowski. Auch dazu kommen wir noch…
sinkovsky

Was er derzeit an der Oper Zürich macht, ist Neuland für Sinkovsky – eine Oper aus dem Jahr 1667. «Das Früheste, was ich je spielte, sang, dirigierte», sagt er, auf  Englisch, denn sein Deutsch findet er nicht so gut wie sein Italienisch, Serbokroatisch, Französisch und, natürlich, Russisch. «Aber Dirigieren ist bei dieser Musik nicht das Dominierende, auch wenn ich natürlich Einsätze gebe. Ich bin eher der, der es zusammensetzt, Instrumente aussucht, kürzt. Wenn man nicht kürzt, dauert Eliogabalo dreieinhalb Stunden, es sollen aber nur etwas mehr als zwei werden. Die Rezitative sind sehr, sehr lang, manchmal endlos, es wird oft dasselbe auf immer neue Weise erzählt. Das ist leichter zu kürzen als Monteverdi, den man eigentlich gar nicht kürzen kann. Aber man muss aufpassen, kein wichtiges Material dabei zu verlieren. Es gibt unglaubliche Momente in dieser Oper, die sind… wow, echte Meisterstücke.»

Was es nicht gibt, ist eine Instrumentierung. Es gibt Instrumentalstimmen, «die kann man besetzen, wie man will. Ich will so viele Farben wie möglich. Zinken, Flöten, Dulzian, Posaune, Harfe, drei Theorben, Laute, Lirone, Cembalo, Orgel… Jede Person bekommt ihre musikalische Identität, ihr Instrument.» Das ist schon deswegen hilfreich, weil Cavalli ein dichtes Netz machtpolitischer wie sexueller Intrigen zwischen zehn Männern und Frauen komponiert hat, an der Spitze der grössenwahnsinnige Kaiser, der eigentlich alle Frauen beansprucht und vor Gewalt nicht zurückschreckt, aber natürlich trotzdem wunderschön singen darf, wie es mir Sinkovsky nun demonstriert. «Oh che vaghi candori…»

Seine schlanke, fokussierte Stimme schwebt im mezzopiano durch den stillen Saal, nach «che morbide rose» bricht er ab. «That’s it, ein Arioso von acht Takten. Eliogabalo singt sie für Gemmira, die Alessandro liebt, und die weichen Rosen… das ist etwas Physisches.» «Etwas Erotisches.» «Oh yes. Ich habe bis halb vier daran gesessen, hinter diese Metaphern zu kommen. Wir sprechen heute nicht mehr in Metaphern. Wie ausdrucksvoll diese Sprache war!» Und mit der Emotion müsse man beginnen, die Technik sei nur Unterstützung. «Das habe ich von Harnoncourt gelernt. Es ist eben nicht so, dass man in die Noten guckt und sagt, ja, kenne ich, den Rhythmus», er singt ein paar punktierte Noten, «der muss so und so verziert werden», er umgibt die Töne mit 32tel-Girlanden. «Natürlich muss man wissen, wie man Verzierungen schreibt. Aber Cavalli, das ist hauptsächlich gesprochene Musik. Wie man ein Wort ausspricht, das kann alles ändern, mehr als eine Verzierung oder ein Vibrato oder kein Vibrato.»

Es macht Spass, Cavallis Geheimnisse zu erkunden, aber ich möchte auch wissen, wie eigentlich ein Musiker zu Cavalli kommt, der zuerst am Konservatorium seiner Geburtsstadt Moskau in die alte russische Schule des Geigens einstieg, virtuos, hochromantisch, Bruch, Brahms, Tschaikowski… «Am Konservatorium war damals Alte Musik schon in Mode, Pinnock, Gardiner, Leonhardt, die Pioniere. Ich hörte das und bekam eine Gänsehaut, es war wie ein geheimer Raum. Mit zwanzig hatte ich das Glück, als Geiger zu einer erfahrenen Gruppe von Barockmusikern zu kommen, Musica Petropolitana aus St. Petersburg. Die brachten mich mit berühmten Musikern in Kontakt, mit dem Counter Michael Chance, mit Emma Kirkby. Und ich dachte, wenn ich in Zukunft Dirigent sein will, und das wollte ich, sollte ich auch singen lernen. Was will man Sängern sagen, wenn man nicht versteht, was sie tun?»

Na schön, aber das muss ja nicht gleich zu einer Zweitkarriere als Counter führen. Wie hat er seine Stimme entdeckt? «Das fragen mich Sänger auch.» Er lacht, dann schmettert er ein sehr hohes «Haaa» in die Luft. «Okay.» Der frischgebackene Barockgeiger bekam Unterricht bei Marie Leonhardt, der Sänger bei Michael Chance. Der kommende Dirigent studierte in Zagreb Chorleitung und in Toulouse Orchesterleitung. Seit Februar 2022 ist Dmitry Sinkovsky Chefdirigent der Oper in Nizhny Novgorod, einer Millionenstadt 400 Kilometer östlich von Moskau. Seit ebenso langer Zeit herrscht Krieg in der Ukraine. Wie aber kommt damit der Sänger der Titelpartie klar, der Ukrainer Yuriy Mynenko? «Wir haben uns ohne jede Diskussion vom ersten Tag an verstanden. Wir machen dasselbe Ding. So sollte es sein in unserer kleinen musikalischen Gemeinschaft, die zusammenbleiben muss in jeder Art von Zeit. Ich bin der Zürcher Oper dankbar, den Vertrag eingehalten zu haben.»

Er erzählt vom Orchester in Nizhny, ein sehr junges Ensemble von 25- bis 27-Jährigen, «diese neugierigen jungen Augen sind mir mehr wert als Geld, so motiviert, die wollen arbeiten, die sind wie eine Familie. Und egal mit welcher Situation man sich befasst, immer kümmert man sich um seine Familie. Leute mit einer festen Stelle im Orchester, mit Familie und Verwandten, haben keine Wahl, woanders hinzugehen wie reisende Musiker. Die können nur die Musik verlassen und auf die Strasse gehen. Besonders als Solist und Dirigent sollte man daran denken, dass es weitaus Abhängigere gibt.» Und die lässt er nicht sitzen.

«Keiner weiss, was in einer Woche passiert», Dmitry Sinkovskys Satz zum Probenprozess passt auch zur Weltlage. Nur dass man im Theater eher mit dem Schönsten rechnet als mit dem Schlimmsten. Für den Ensembleleiter, Sänger und Geiger hat sich der Regisseur schon wieder eine neue Herausforderung einfallen lassen, ein viertes Metier. «Calixto sagte heute, hier will ich einen ballo, einen Tanz, mach was! Also werde ich heutenacht ein paar Ritornelle komponieren. Im Stil von Cavalli, oder seine Themen benutzend, mit Zink oder Geige im Stil einer Triosonate…» Es wird wohl mal wieder spät werden.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 97 der Oper Zürich, November 2022, sowie online.