“Ich kann ohne Berge gar nicht singen”

Siena Licht Miller, vor 28 Jahren an der Pazifikküste von Oregon geboren, wird im Ensemble der Oper Zürich für jeden Stil besetzt. Jüngste Rolle: Händels Perserkönig Xerxes.

Sie kniet da und beschmiert sich mit Farbe. Mit schwarzer. Das weisse Gewand, den  Körper, die blonden Haare, komplett. Oder anders gesagt, er tut das, Serse, Xerxes,  Händels verzweifelter, schier wahnsinniger Perserkönig in seiner letzten Arie «Crude furie degli orridi abissi», 1738 für einen Kastraten geschrieben. Jetzt ohne Ton, im Smartphone. Es ist nicht gerade die Sorte Video, die man sich sonst neben dem Capuccinobecher bei Starbucks anschaut. «Das haben wir gestern gedreht», sagt Siena Licht Miller, nun ohne Farbe im Haar und nicht im Geringsten verzweifelt. «Es muss hinterher eine Menge Duschwasser gekostet haben», meine ich. «Yes, it did…» Sie lacht. Die 28-jährige Mezzosopranistin ist an Extreme gewöhnt und an Sprünge zwischen den Bühnenwelten. Noch vor einer halben Stunde stand sie im Probensaal am Kreuzplatz neben Sabine Devieilhe und sang mit ihr das weltberühmte Blumenduett aus Lakmé.

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Siena, neuerdings fest im Ensemble der Oper Zürich, wird hier praktisch für jeden Stil besetzt, von Monteverdi bis Verdi, von Rossini bis Wagner, von Offenbach bis Strauss. Eine hochgewachsene, heitere Frau, die nach zwei Minuten das «Sie» über Bord wirft und darum bittet, «Denglisch» sprechen zu dürfen. Deutsch ist zwar, im wahrsten Sinn, ihre Muttersprache, aber im Amerikanischen fühlt sie sich eher zu Hause. Sie kam in Portland zu Welt, im US-Bundesstaat Oregon an der Pazifikküste, wohin ihre deutsche Mutter mit 25 Jahren zog. «Die Eltern meiner Mutter haben ein Haus in der Toscana, in der Nähe von Siena, und mein Vater ist zur Hälfte Italiener, also waren wir früher jeden Sommer dort. Mein Name repräsentiert alles, was ich bin.» Sie lacht. Und der Vorname «Licht» passt schon auf den ersten Blick.

Er könnte auch für das stehen, was ihr Zürich bedeutet – ein Anruf von hier erwies sich vor drei Jahren als Rettung ihrer Sängerlaufbahn. Da befand sich Siena in Portland und sah zu, wie alles dichtmachte, eine amerikanische Opernbühne nach der anderen. Bühnen, von denen es ohnehin nicht sehr viele gibt und die, weitgehend auf private Förderer angewiesen, keine ihrer Musikerinnen und Sänger vor dem Abgrund schützen konnten, der sich durch «the pandemic» auftat. Für viele wurde Covid der Sargnagel einer ohnehin prekären Existenz. Aber diese junge Sängerin hatte etwas in der Tasche, was für ihre künstlerische Zukunft ähnlich wichtig war wie ein Visum für Emigranten – einen Vertrag mit dem Opernstudio in Zürich.

«Im Januar 2020 kurz vor Covid», sagt sie, «kam ein Anruf aus Zürich, sie suchten jemanden für das Opernstudio. Ich hatte Jahre zuvor an einem Vorsingen im Curtis Institute in Philadelphia teilgenommen für einen Platz in Zürich, jetzt sollte ich hinfliegen und noch einmal vorsingen. Aber ich kam nicht weg und schickte stattdessen ein Video.» Sie wählte eine Arie des Nicklausse aus Hoffmanns Erzäh­lungen. «Ich bekam den Job und musste alles absagen, was ich in Amerika hatte. Aber etwas in mir sagte, du musst gehen. And then the world shut down. And thank God I came to Zürich. Ich weiss nicht, ob ich sonst noch singen würde.» Es entbehre nicht der Ironie, sagt sie, dass gerade Offenbachs «Geigenarie» ihr den Weg nach Europa öffnete. Eine Arie, in der Nicklausse den Klang der Violine, die dazu spielt, mit dem Liebesschmerz vergleicht, über den dieser Klang auch hinwegtrösten kann.

Denn Geigerin ist Siena selbst einmal gewesen. Sie hat das gleich zu Beginn des Gesprächs erzählt, als wolle und müsse sie es hinter sich bringen. Die Tochter eines Osteopathen und einer Psychotherapeutin wollte schon mit fünf Jahren unbedingt Geige spielen, und es erwies sich, dass sie neben viel Talent auch ein aussergewöhnliches Gedächtnis hatte. «Ich konnte kaum Noten lesen, aber nach einmaligem Hören einen 20 Minuten langen Konzertsatz von Mozart nachspielen.» Was sie ausserdem liebte,war Skifahren in den Bergen Oregons. Mit 15 Jahren hatte sie einen Skiunfall, bei dem sie den grösseren Teil ihres Gedächtnisses verlor, dazu die Reflexe für die Feinmotorik. «Nur mein musikalisches Gedächtnis war komplett intakt. Ich konnte mir nicht merken, was man mir gerade gesagt hatte, aber ich konnte mir ein 40 Minuten langes Stück Musik aufrufen.»

Der Neurologe Oliver Sacks hat in seinem Buch Der einarmige Pianist beschrieben, wie so etwas zustande kommt. Musikalische Strukturen werden jenseits des episodischen Gedächtnisses verarbeitet, eine grosse Rolle spielt dabei das geschützt liegende Kleinhirn, entwicklungsgeschichtlich uralt. Sacks erzählt, wie die gespeicherte Musik zum Seil werden kann, an dem Patienten aus dem Abgrund von Vergessen hochklettern können. Bei Siena ist das besonders gut gegangen. «Ich sang, zuerst mehr als Teil der Therapie, das war heilsam. Ich fühlte mich dadurch mit allem mehr verbunden und auch intelligent. Meine Intelligenz stellte ich nämlich sehr in Frage.»

Auch wenn sich nach und nach der Rest des Gedächtnisses wieder einfand, «Geige konnte ich nicht mehr so spielen, wie ich das wollte. Und ich erinnere mich, dass, als ich singen zu lernen begann, die Reaktion der Leute voller Freude war. A powerful feeling. Und dann blieb ich kühn genug, um immer mehr zu erkunden.» Mit 18 Jahren begann Siena Gesang zu studieren, am Oberlin Conservatory im Bundesstaat Ohio, Psychologie und deutsche Literatur kamen dazu. Mit 21 wechselte sie ans elitäre Curtis Institute of Music in Philadelphia an der Ostküste, wo nur 2 Prozent aller Bewerber Studienplätze bekommen. Um ihr Stimmfach machte sie sich nicht viele Gedanken. «Ja, ich bin Mezzo, aber ich sehe mich lieber als Siena, die guckt, was zu ihrer Stimme passt. Ich identifiziere mich mit dem speziellen Mezzo-Temperament. Wir haben diesen üppigen Unterton wie die Viola, mein Lieblingsinstrument. Und wir müssen alles sein können, ein troublemaker, ein Junge. Die Charaktere, die ich spiele, geben mir die Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, die ich sonst für mich behielte. Weil ich von der Geige kam, war da anfangs auch eine differierende Identität, ich sah mich nicht immer als Sängerin. Das hat Peter Sellars sehr gut verstanden, bei ihm fühlte ich zum ersten Mal, es ist Platz für mich in der Welt der Oper.»

Mit Regisseur Sellars gestaltete sie 2019 in Santa Fe als Einspringerin die Kitty Oppenheimer in John Adams’ Doctor Atomic. «Es ging bei den Proben auch um das Aufeinanderzugehen, die Energie in der Gruppe. Musiker sind so empfindlich, über so etwas sprechen wir nicht genug. Es gibt eine Intimität im Probenraum, und die besten Regisseurinnen und Dirigenten nehmen das sehr ernst.» Zu denen gehört für Siena auch Nina Russi, die Regisseurin von Serse. «Alles muss menschlich sein bei ihr, ehrlich und echt. Es ist wirklich kathartisch, wenn wir arbeiten, weil es so ehrlich ist, und das ist anstrengend! Aber wenn du aufrichtig bist, verstehen die Zuschauer alles, ohne irgendetwas über das Stück wissen zu müssen. Manchmal wünschte ich, ich wüsste selbst gar nichts über diese Kunstform, sässe nur im Publikum und beobachtete meine Reaktion im Innersten, ohne all das wie singen sie?»

Eine der wichtigsten Quellen für ihre Arbeit ist die Natur, «für mich besonders die Berge. Ich kann ohne Berge gar nicht singen», sagt sie. «Es ist schwer zu erklären, aber die Berge und die Musik haben eine Menge gemeinsam. Wir gehen da hinein auf der Suche, um uns selbst besser zu verstehen, und werden konfrontiert mit den grössten Freuden und den tiefsten Sorgen. Die Berge haben mich in meinem Schlimmsten und in meinem Besten gesehen, und dasselbe ist es mit der Musik. Wenn ich in den Bergen war und in der Stille gelebt und diese Luft geatmet habe, ist da eine Ruhe in mir, in der ich wieder bereit bin für Musik. Manchmal verfolgen mich auch Reste einer Bühnengestalt zu sehr, mit der ich mich verbunden habe. Die werde ich in den Bergen wieder los.»

Wird irgendwann auch der Perserkönig dazugehören? «To connect with Serse, das war nicht immer leicht. Aber er beginnt die Oper, indem er einen Baum besingt: Ombra mai fu. Ich glaube, die Natur findet mich immer!»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschienen in MAG 101 der Oper Zürich, April 2023. Serse ist eine Produktion des Internationalen Opernstudios des Hauses und wurde im Mai 2023 im Theater Winterthur gespielt. Der screenshot aus dem Trailer zeigt SLM während der Arie “Ombra mai fu”.