Totalen, Nahaufnahmen, Aufbrüche, Abbrüche: Anton Bruckners Sechste Sinfonie gewährt Ausblicke wie keine andere
Im Ganzen hat der wilde Komponist etwas an Zucht gewonnen, aber an Natur verloren.« Es war Ludwig Benedikt Hahn, der das für Die Presse über Anton Bruckners Sechste schrieb, über die beiden Mittelsätze, die am Sonntag, 11. Februar 1883, erstmals von den Wiener Philharmonikern gespielt wurden. Hahn sah keine Zukunft für diese Musik, während am 13. Februar sein Kollege Eduard Hanslick in der Neuen Freien Presse in Bezug auf dasselbe Konzert ziemlich fair bekannte, ihm persönlich sei es immer »schwer geworden, ein richtiges Verhältnis zu diesen seltsamen Kompositionen zu gewinnen.« Besonders »der groteske Humor des in lauter unerklärlichen Gegensätzen sich müde taumelnden Scherzos« habe ihn »völlig rathlos« gelassen. Eine Hymne ist diese Einschätzung nicht, für zukunftslos allerdings hielt Hanslick nur Ludwig Spohrs 5. Sinfonie im selben Programm.
Besonders viel hatten bis dahin beide Rezensenten nicht von Bruckner hören können. Der Komponist war jetzt Ende 50 und lebte seit 15 Jahren in Wien. In dieser Zeit hatte er dort selbst seine 2. Sinfonie dirigieren können, auch die – infolge des unwilligen Orchesters – katastrophal durchfallende Dritte, dann mit Erfolg seine d-Moll-Messe, und Hans Richter hatte Anfang 1881 die 4. Sinfonie uraufgeführt. Die Fünfte, seit sieben Jahren fertig, kannte nur ihr Komponist. Es hatte lange gedauert, bis er nach den Risiken, die er in der Fünften eingegangen war, wieder ein neues großes Werk konzipierte. In den drei Jahren dazwischen hatte Bruckner die Nummern 2 bis 5 revidiert, ein Streichquintett geschrieben, und er war in eine Wohnung an bester Adresse umgezogen, die ihm ein Bewunderer mietfrei überließ, neben dem Ringtheater. Dieses war inzwischen abgebrannt, und längst war die 7. Sinfonie in Arbeit.
Hanslick, etwa gleichaltrig mit Bruckner, hatte schon recht, ihn einen »nur im Großen arbeitenden Componisten« zu nennen. Die Sinfonien waren seine eigentliche Welt, er lebte darin, »im Großen« eben, darum wartete er nicht auf Aufträge, und darum war er zwar oft frustriert, aber nicht zu entmutigen. Er, der sich von außen ausnahm wie ein passabel bezahlter, etwas verschrobener Universitätsbeamter, von dem in großen Abständen Kompositionen von »unerbittlicher Länge« (Hanslick) zu hören waren, bewegte sich in einer sinfonischen Welt, die ihre eigene Biographie hat und davon auch erzählt, und zwar hochbewusst wie in eben dem Scherzo der 6. Sinfonie, das der eine Kritiker grotesk und unerklärlich fand, der andere hingegen »ausschließlich durch Seltsamkeiten fesselnd.«
Zu diesen Seltsamkeiten gehören auch zwei Takte im Trio des Satzes, die an nichts anknüpfen, eingesetzt wie ein Zitat – das sie auch sind. Nur konnten die Wiener im Februar 1883 das Hauptthema aus Bruckners Fünfter nicht kennen, diese Töne neuen Elans nach tiefer Krise, mit denen der Komponist nun fast kokettiert. Die strukturelle Bedeutung des Zitats für sein Trio ist die Zweitaktigkeit – fast das ganze Stück ist strikt zweitaktig organisiert. »Eine stärker zerpflückte und fragmentierte, schizophrenere, auf die Bindekraft quadratischer Metrik stärker angewiesene Musik hat er nie geschrieben«, beobachtet der Musikwissenschaftler Peter Gülke. Auch das Scherzo drumherum, Bruckners kürzestes überhaupt, ist zwiespältig: Beträchtliche Wucht und Gesten eines Ausholens wie in Ecksätzen, aber kleinteilig und auf engen Raum zusammengedrängt.
Er kommt erstaunlich schnell zur Sache
Die Ecksätze selbst sind geradezu Gegenentwürfe zur Fünften. Kein langsam sich entfaltender Beginn im 1. Satz, keine isolierten Ereignisse, die nach und nach in Beziehung zueinander geraten. Stattdessen ein Zwölfachtelrhythmus in den Violinen, unter dem die Bässe in halben Noten und bremsenden Sextolen-Vierteln alles andere als tänzerisch einsetzen, in einem dunklen, kirchentonartlichen A-Dur. Mit diesem Thema kommt Bruckner erstaunlich schnell zur Sache, zu einem Höhepunkt mit üppigem Blech, als habe man schon wer weiß welche Entwicklungen hinter sich. Ein schier galaktischer Sound, der einen – wie auch der ostinate Zwölfachtelrhythmus – zur Frage bringen kann, ob sich Filmkomponist John Williams vielleicht auch hier für Star Wars bedient hat und nicht nur bei Puccini und Strawinsky.
Von dieser Totalen – um kurz im andern Metier zu bleiben – zoomt Bruckner umgehend zur Nahaufnahme, zum zweiten, singenden Thema. Das will er »bedeutend langsamer«, aber dazu stehen die Sextolenviertel (aus dem ersten Thema übernommen) im Kontrast – sie bilden eine schnellere Schicht unter der sehnsüchtigen Linie der 1. Geigen. Damit sind wir erst bei Takt 50 von 369 Takten, in denen das Spannende immer wieder solche Ereignisse in der Vertikale sind und weniger die motivische Arbeit. Patterns erscheinen prägender als der große Bogen einer Entwicklung, Schnitte wie der zu einem kleinen Wiegenlied, Reduktionen wie die zu einer intimen Kammermusik von Horn, Trompete und Geigen, kurz vor der Reprise. Und diese Neuaufnahme des Beginns wird gerafft zugunsten einer Coda, die schon wieder großes Kino ist. Der große britische Musikwissenschaftler Donald Francis Tovey zählte sie zu Bruckners besten Passagen: »Das erste Thema steigt langsam auf [...], von Tonart zu Tonart sich bewegend unter einer aufgewühlten Oberfläche, die wie die homerischen Meere glitzert.«
So gehört, mutet das folgende Adagio an wie ein Blick auf Troja am Morgen nach der Katastrophe. Nicht der Blick eines Geflüchteten, Involvierten, sondern der homerische, der hinter den Ruinen alle Ruinen sieht und das ganze Leben. Bruckner komponiert hier nicht Depression wie im Adagio der Fünften, er gewinnt in mittlerer Distanz ungeheure Verbindlichkeit, und da dieser Satz einer seiner kohärentesten und klarsten langsamen Sätze ist, kann sich jeder Hörer die Geschichte, die Bilder weitererzählen lassen, die wach werden. Zum ausgreifenden Thema in den Streichern kommt ein Klagen der Oboe, wie ein Mensch, der jäh im Vordergrund auftaucht. Und es ist grandios, wie später beide Themen zugleich sich im Orchester ausbreiten, über Schritten der Bässe, gleichsam die Erzählung eines Geschehens, die sich mit den Jahren über die Welt ausbreitet. Bei Bruckner kann man wirklich Jahre und Jahrhunderte hören. Aber auch, mitten in einem F-Dur-Stück, ein zärtliches E-Dur-Glück, von dem offen bleibt, ob es die Erinnerung an Früheres ist, eine irrsinnige Zuversicht – oder beides.
Gemessen an der Kohärenz dieses langsamen Satzes und erst recht den Finalsätzen der 5. und 7. Sinfonie, gemessen an den Formkriterien, die an Musik seit der Wiener Klassik entwickelt wurden, könnte man das Finale der Sechsten als katastrophal misslungen bezeichnen. »Haltloses Treiben, das konsistente Formulierung nicht zu dulden scheint« (Gülke), »Vermeiden thematischer Fixierung« und »immer wieder ins Stocken geratende Ansätze« (der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen): Selbst Bruckners kundigste Bewunderer haben Mühe, den Satz zu retten. Aber eigentlich sind wir ja vorgewarnt. Im 1. Satz hat sich Bruckner im Schutz bindender, überschaubarer Architektur eher für Perspektivwechsel als für Entwicklungen interessiert, und der großen Erzählung des Adagio ist ein Scherzo der Fragmente gefolgt. Im Finale strebt er nun zum ersten und einzigen Mal nicht die Krönung des Ganzen an, in der möglichst viel aufgegriffen, übereinandergestapelt und bedeutsam unter Spannung gesetzt wird.
Wie entspannt er beginnt, zeigt schon das erste Thema. Über einem Tremolo der Bratschen überlassen sich die Violinen einfach der Gravitation und gleiten sanft vier Takte lang herab, dann noch mal, eine Weile geht das so und ähnlich weiter, dann greifen die Blechbläser mit massiver Fanfare ein, daraus wird, ähnlich wie im ersten Satz, ein früher Höhepunkt. Den lässt Bruckner einfach so stehen. Von nun an interessiert ihn der ruhige Blick in die Runde, ein kleiner Besuch bei Wagners Tristan, Bruckner scheint den Instrumenten zuzuschauen, während er ihnen Schönes zu tun gibt und dem Blech immer mal wieder so jähe wie folgenlose Eingriffe gönnt. Ein Orgelpunkt in den Bässen, sonst Garant für ein bevorstehendes Erdbeben, versandet einfach, lieber zelebriert Bruckner in den Celli noch einmal sein erstes Thema. Er lässt überhaupt das Material für sich stehen und verlangt ihm keine Konsequenzen ab – so gelassen und so modern zugleich war er noch nie.
Wer von der Wundermaschine Orchester gerade bei Bruckner immer Verheißung und Transzendenz erwartet, muss da enttäuscht sein. Wer sich aber auf den freien Horizont einlässt, der sich zwischen den Gruppen und Themen öffnet, den kann es geradezu erheitern, wie der Komponist jeder Fokussierung und Transzendierung ausweicht, wie er zum pflichtgemäß großen Schluss hin so viele interessante Anläufe abbricht, bis es gar kein großer Schluss mehr werden kann. Da werden dann einfach, auf F-Dur folgend, 30 Takte A-Dur in Forte und Fortissimo hingeknallt – und selbst die noch mit modulierender Zwischenbremse. Dann zitieren die Posaunen das erste Thema des Kopfsatzes, Schluss, alle Fragen offen. Eine gute Startposition. Jetzt kann Anton Bruckner sich ums Spätwerk kümmern.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programmheft des Gürzenich-Orchesters Köln, das Bruckners Sechste am 7.-9. Mai 2023 aufführte, unter der Leitung von François-Xavier Roth. Die Unterzeile wurde für diese Website ergänzt, das Foto des Autographs von 1880 findet sich u.a. bei concerti.de und ist gemeinfrei.