Nicht nur Ravels “Boléro” hat es in sich: Farbenwunder französischer Orchestermusik von Camille Saint-Saëns bis Éric Montalbetti
Jede Musik trägt auch die Zeit in sich, in der sie entstand. Meist wird das erst im Abstand von Jahrzehnten deutlich, wenn sich abzeichnet, was man „Epoche“ nennt. Aber selten setzt eine Veränderung, die Milliarden von Menschen zugleich betrifft, so jäh und unvorbereitet ein wie jene, die vor gut vier Jahren Corona bewirkte [dieser Text wurde zuerst 2024 publiziert]. Wir haben noch im Sinn, wie die Gegenwart still und fadenscheinig wurde, besonders in der Musik, und vielleicht könnte man schon jetzt den Werken, die da entstanden, Gemeinsamkeiten ablesen. Eine davon wäre das „Jetzt erst recht“ von Komponistinnen und Komponisten, indem sie für jene großen Orchester schrieben, die zum Verstummen gebracht wurden. Der 1968 geborene Éric Montalbetti, schon vorher mit einem Auftrag für das Orchestre Philharmonique de Radio France und das Gürzenich-Orchester Köln versehen, reagierte quantitativ wie qualitativ. In seiner Ouvertüre philharmonique machte er aus dem großen Orchester ein besonders großes, mit je vier Flöten, Klarinetten, Trompeten, sechs Hörnern, vier Perkussionisten für 16 Instrumente, das reinste Infektionsparadies.
Und er schrieb für diese 90 Musiker „ein weitaus positiveres Stück als das zuerst konzipierte“, wie er meint. „Nicht ohne Schwere beginnt es in einer Atmosphäre gemischter Gefühle und endet mit einem Hauch Nostalgie, aber freudiger und optimistischer.“ Tatsächlich erhebt sich schon überm bedrohlichen Pauken-Crescendo am Beginn funkelndes Glockenspiel, danach entfaltet das Orchester einen nie lastenden, sondern immer lebendigen Klang, eine Weite voller Details, die in einem langen Unisono-A ihren Horizont findet. Etwa 100 Takte lang ist dann alles im Fluss, reich an polyphonen Aktionen in wechselnden Instrumentengruppen. Dann erklingt, mit „Andantino“ bezeichnet, über einem Sechsachteltakt ein tänzerischer Rhythmus mit sehr vitalen Holzbläsern. Die Streicher schweigen derweil ganze 122 Takte lang, bis die Blechbläser ein choralhaftes Fundament legen. Mit dem Einsatz der Streicher ist die Coda erreicht, eine Auflösung ins Große, da müssen 38 Notensysteme auf eine Partiturseite passen. Monumental aber wird es nur andeutungsweise, und die letzten leisen Takte sind wie ein Lächeln: Flöte, Solovioline, Glockenton in höchster Höhe.
Paris liegt am Nil
Allzuoft geschieht es wohl nicht, dass ein Pianist mitten im Konzert, im Applaus zwischen zwei Stücken, ein Gedicht aus der Tasche zieht, ein selbstverfasstes, und es vorliest – so wie am 2. Juni 1896 in der Pariser Salle Pleyel. Er ist sechzig Jahre alt, stattliche Erscheinung, gepflegter grauweißer Vollbart, und erinnert sich an sein Debüt vor einem halben Jahrhundert. Camille Saint-Saëns war tatsächlich erst zehn Jahre alt, als er in diesem Saal mit Klavierkonzerten von Mozart und Beethoven seine Karriere begann. In paarweise gereimten Zeilen erzählt er an diesem Dienstag, fünfzig Jahre später, von seinem Abscheu vorm Applaus, Triumphen und Niederlagen. Zum Schluss bekennt er: „Die Finger sind jetzt schwer, die Leichtigkeit ist hin. Aber wer weiß…da ist noch Feuer im Kamin.“ Ziemlich kokett nach dem, was er gerade auf dem Flügel zum Besten gegeben hat, wie immer mit unbewegter Miene und Haltung, ein pianistisches Feuerwerk ohnegleichen, das Finale seines neuen, 5. Klavierkonzerts.
Nicht einfach fingerbrecherisch virtuos, sondern raffiniert mit dem Orchester verschränkt ist diese Musik. Mit einem Schwung, der der Carmen-Arena seines allzu früh gestorbenen Freundes Bizet entsprungen zu sein scheint und es Saint-Saëns erlaubt, das Hauptthema erst nach fast zwei Minuten aus dem Klavier springen zu lassen. Ein Thema, das die unterschiedlichsten Farben annimmt, durchs Orchester wandert, durch elegische Schatten, hinter denen rasende Klavierarpeggien glitzern. Erst dann wird der Virtuose wieder zum Treibenden, zum Getriebenen auch, bis der Komponist das Stück da in den Schluss reißt, wo andere noch zwanzig Takte weitergemacht hätten. Im Vergleich zu diesem Finale ist der erste Satz noch eine Horizonterkundung, eine Verheißung, der Erstaunliches folgt: formal ein langsamer Satz, in Wahrheit ein Abenteuer.
Die Pariser lieben Orientalismen spätestens seit Napoléons Beutezügen. Gerade erst ist die ägyptische Abteilung des Louvre renoviert worden, und seit die Briten Ägypten kontrollieren, ist das Land ein beliebtes Reiseziel. Saint-Saëns selbst hat den Winterurlaub in Luxor verbracht und dort sein Konzert geschrieben. Der 2. Satz, so der Komponist, ist „eine Art Orientreise, die in der Episode in Fis-Dur sogar bis zum Fernen Osten vordringt. Die Passage in G-Dur ist ein nubisches Liebeslied, das ich von Schiffern auf dem Nil singen gehört habe, als ich auf einer Dahabieh den Strom hinuntersegelte.“ Von einem Grillenzirpen in Sechzehnteln begleitet, ist dieses Thema erstaunlicherweise das abendländischste im ganzen Stück – erst in seiner seiner Fortsetzung findet man jene übermäßigen Sekunden, die als Signet für das „Orientalische“ sonst häufig eingesetzt werden, fast ein Gemeinplatz im 19. Jahrhundert. Bei Saint-Saëns entsteht eine Szenenfolge voller Klangfarbenexperimente, deren kühnstes, die erwähnte „Episode in Fis-Fur“, ganz aus der Spätromantik hinausführt: 40 Takte lang nur ein Ton im Klavierdiskant und ersten Geigen, das hohe Cis, in Achteln und Sechzehnteln, sehr leise, dazu spielt die linke Hand eine pentatonische Linie, die nirgends hinführt. Ein magischer Zustand, dem weitere folgen, wie der Gang durch eine Wunderkammer. So viel Fragment und Experiment hat Saint- Saëns sonst vielleicht nur im Karneval der Tiere riskiert.
Mysterium und Realität
Die „verabscheuungswürdigste Genremalerei“ ist das Saint-Saëns-Konzert jedenfalls nicht, die zur gleichen Zeit der 33-jährige Claude Debussy der sinfonischen Musik seiner Zeitgenossen vorwirft. Allerdings ist er tatsächlich dabei, die Moderne zu erfinden, als deren Morgenröte schon sein Prélude à l´après-midi d´un faune von 1894 gesehen werden kann. Im Jahr 1896 sitzt Debussy nicht nur an der Oper Pelléas et Mélisande, sondern auch an den Nocturnes, einem sinfonischen Triptychon, dessen Folgen für die weitere Entwicklung der Musik gar nicht überschätzt werden können. Für gewöhnlich ist allerdings das Gegenteil der Fall, da dieses Werk nicht oft gespielt wird. Seiner Präsenz in den Konzertsälen ist jener dritte Satz im Weg, der schon bei der ersten Aufführung am 9. Dezember 1900 in Paris entfiel: Sirènes verlangt einen Frauenchor, der zusätzlich Probenzeit braucht und ohne Text, aber unfassbar sauber singen muss. Mit diesen Stimmen über den sanften Meereswogen des Orchesters lässt uns Debussy die ungeheure erotische, aber todbringende Anziehungskraft ahnen, die laut griechischer Mythologie der Gesang der Sirenen, weiblicher Rätselwesen, auf die Seefahrer ausübte, die in Hörweite gerieten. Bekanntlich ließ Odysseus sich am Mast festbinden, um ihnen lauschen zu können, ohne gleich über Bord zu springen. Aber nicht erst dieses aparte Klangexperiment macht die Nocturnes so bahnbrechend. Wer auch nur die ersten beiden Takte des 1. Satzes Nuages hört, Wolken, diese zweistimmige Linie aus zwölf Vierteln, von Klarinetten und Fagotten gespielt, in einer so ungebunden wie archaisch anmutenden Harmonik, könnte meinen, Takte aus Igor Strawinskys Le Sacre du printemps zu hören, jener Partitur, die Debussy 1912 gemeinsam mit dem jungen Kollegen am Klavier erprobte.
Dass Strawinsky und Maurice Ravel gleichermaßen von den Nocturnes beeindruckt waren – sie wurden schon 1910 auch in Russland aufgeführt – und sie „fortschrieben“, liegt an der Konsequenz, mit der sich Debussy besonders in Nuages von Erzählung, Entwicklung und Klangkonventionen verabschiedet und „impressions“ realisiert, wie er das im Programm der Uraufführung nannte, Eindrücke von Wolken. Es kommt einer Neuerfindung des Orchesters gleich, wie hier in nicht diatonischer Harmonik Farben entstehen und Linien gezeichnet werden, Umrissen ähnlicher als Melodien. Wie für alles Neue musste auch dafür ein Etikett her, und das übernahm man aus der Kunst: „Impressionismus“. Debussy war davon später zunehmend genervt. „Ich versuche, (….) Realitäten zu schaffen, was die Dummköpfe dann ,Impressionismus´ nennen, ein Ausdruck, der so unpassend wie möglich angewendet wird, vor allem von den Kunstkritikern, die nicht zögern, [William] Turner damit auszustaffieren, den wunderbarsten Schöpfer von Mysterien, die es in der Kunst gibt!“
So ein Mysterium sind auch die Nuages, denen die konkreteren Fêtes folgen, Feste. Auch hier gibt es kein Klischee, keine Anspielung oder gar Zitate von Volksweisen oder Tanzrhythmen. Es geht um Bewegung und eine neue Orchestersprache, die besonders da aufhorchen lässt, wo das Metrum vom raschen Dreiviertel zum „Modéré“ im Zweivierteltakt umschlägt, gleichsam ein Szenenwechsel. Leise Pauken-Achtel, darüber das Pizzicato der Celli, dann auch der höheren Streicher, gezupfte Akkorde, keine harmonische „Begleitung“, eher Teil der Perkussion, 40 Takte lang. Das ist die exakte Vorlage für die „action rituelle“ im zweiten Teil von Le Sacre du printemps, nur dass Strawinsky darüber keine Bläserfanfaren erklingen lässt, sondern ein einsames Englischhorn – genau wie im 5. Takt der Nuages von Debussy. In den Fêtes führt eine Spur auch zum Boléro von Maurice Ravel: 20 Takte lang wiederholt bei Debussy die „Tambour“-Trommel exakt jenen Rhythmus, der die Keimzelle des Bolero bilden wird: Achtel plus Sechzehnteltriole, darüber ein auskomponiertes Crescendo. Freilich ist das nur die offenkundigste Spur neben so vielem anderen, wovon sich Ravel in den Nocturnes inspirieren lassen konnte. Die drei Sätze begeisterten ihn so, dass er 1909 ohne Auftrag eine Fassung für zwei Klaviere schuf.
Die Wundermaschine
Neunzehn Jahre später lässt Maurice Ravel sein bis heute berühmtestes Werk mit der erwähnten „Tambour“-Trommel beginnen, die Achtel und Sechzehnteltriolen spielt. Doch nie klang eine Militärtrommel unmilitärischer. Und das, obwohl sie unerbittlich, unbeirrbar, ja geradezu unmusikalisch bis zum Ende immer die selben zwei Takte wiederholt. „Dam, dadada dam, dadada dam dam / dam, dadada dam, dadada dadada dadada…“. Wie eine Maschine. Maurice Ravel hat seinen Boléro ein „Orchestergewebe ohne Musik“ genannt, „ein Experiment in eine ganz besondere und begrenzte Richtung“. Es gebe darin, schreibt er 1931, drei Jahre nach der Uraufführung als Ballettmusik, „keine Kontraste und praktisch keine Einfälle außer der Gesamtanlage und der Art der Realisierung. Im Großen und Ganzen sind die Themen unpersönlich – Volksmelodien des gewöhnlichen ibero-arabischen Typs…“
Wie später John Cage scheint sich Ravel hier als Autor zurückziehen zu wollen – nur dass er das Material nicht dem Zufall überlässt, sondern einer Maschine, die er selbst entworfen hat, mitsamt der von ihr zu produzierenden Muster. Ravel liebte Maschinen, „diese großen Monster, die der Mensch schuf, um seine Wünsche erfüllen zu lassen“, wie er in einem Text über Klänge und Fabriken schrieb. Er sammelte Uhren und mechanische Spielzeuge; sein Bruder Édouard erinnert sich 1940: „Mein Bruder bewunderte alles Mechanische, von einfachen Blechspielzeugen bis zu den kompliziertesten Geräten (…) Er ging gern mit mir in Fabriken oder zu Maschinenausstellungen. Er war glücklich inmitten dieser Bewegungen und Geräusche. Aber wenn er herauskam, war er wie erschlagen und besessen von der Automatik all dieser Maschinen.“ Damit ist Ravel im Paris der 1920er übrigens nicht allein – man denke an Antheils Ballet Mécanique, Milhauds Machines agricoles oder Honeggers Pacific 231.
Nun baut Ravel also seine eigene Maschine, die zwei höchst unterschiedliche Muster zusammenwebt. Den erwähnten zweitaktigen Rhythmus, der als Dreivierteltakt nicht zu erkennen wäre ohne die Viertel, die (anfangs als Pizzicati der Celli und Bratschen) dazu gespielt werden. Dazu eine endlos wirkende Melodie, schon für sich genommen ein Geniewurf: Ravel hat eben nicht einfach „Volksmelodien des gewöhnlichen ibero-arabischen Typs“ ins Räderwerk eingespeist, sondern die Rhythmen, die Melodien, die Ornamentik der Folklore frei seinem persönlichen Stil angenähert – so, wie das auf seine Weise schon Camille Saint-Saëns tat. Irreguläre Linien sind es, zu biegsam, um in ihren Wiederholungen zu erstarren. Dass es zwei solcher Themen gibt, merkt man nicht gleich, denn das zweite ist eine Art Fortschreibung des ersten.
Mit beiden verfährt Ravel formal geradezu mechanisch: Jeweils zwei Mal Thema A, dann zweimal Thema B, dann wieder A, dann wieder B, nach je 16 Takten zwei Takte Motorik pur. Doch gar nicht mechanisch ist es, wie jeder neue Klang in den Melodien einen Charakter entfaltet: Eine Klarinette spricht aus, was die Flöte verhieß, ein – wie in Strawinskys Sacre – hoch einsetzendes Fagott folgt nach, dann ein Saxophon. Man hört Individuen. Die Wiederkehr der Themen wirkt, als erzählten verschiedene Zeugen von einem einzigen Ereignis. Irgendwann tun sich einige zusammen. Die Kombination aus Horn und zwei Piccoloflöten kann man als Polytonalität aus C-, G- und E-Dur hören, aber auch als drei Personen. Wenn sich später sogar neun Solobläser vereinen, entsteht ein Bläsermärchen: Ein Chor der Verzauberten. Weiter und weiter führen die stets gleichen Linien.
Immer heftiger stampft allerdings auch das Grundmetrum, eine heftige Vertikale, die bald die herrlichen Bänder zu perforieren droht. Da hilft nur der Notschalter. Leerlauf, Fadenriß, Schluss. Man kann den Boléro freilich auch ganz anders hören, selbst 45 Jahre, nachdem Bo Derek als Traumfrau in der Regie von Blake Edwards zum Sexsymbol wurde und dafür sorgte, dass sich die Leute die Musik zum Film als Aphrodisiakum kauften. Es soll damals bei Boléro-Platten zu Lieferengpässen gekommen sein. Aber eben auch zu Höhepunkten.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und wurde für diese Website geringfügig überarbeitet. Er entstand für das Programm Freiflug des Gürzenich-Orchesters Köln, das am 23., 24., 25. Juni 2024 in der Kölner Philharmonie aufgeführt wurde, mit Éric Montalbettis Ouvertüre philharmonique als deutscher Erstaufführung. Illustration: James MacNeill Whistler, Nocturne: The silent sea, 1866. Whistlers Serie von Nocturnes inspirierte Claude Debussy zu seinem Triptychon