Die verschollene „Markus-Passion“ lädt ein zum Besuch in Bachs Werkstatt
Fangen wir doch mal ganz unpassend an, mit Erotik. „Schlafe, mein Liebster, und pflege der Ruh, / Folge der Lockung entbrannter Gedanken. / Schmecke die Lust / Der lüsternen Brust / Und erkenne keine Schranken.“ Keine hohe Poesie, aber entfesselt genug für das Jahr 1733 und zugleich moralisch gut abgepuffert – es ist die Allegorie der Wollust, die da singt und den Wettstreit gegen die Allegorie der Tugend natürlich verliert. Hercules auf dem Scheidewege, so der Titel der Kantate von Johann Sebastian Bach, entscheidet sich umgehend: „Geliebte Tugend, du allein / Sollst meine Leiterin / Beständig sein.“
Mit der Markus-Passion, zwei Jahre zuvor entstanden, hat diese Arie nichts zu tun. Um so mehr aber das Verfahren, mit dem Bach sie in ein anderes seiner Werke einbaut. 1734, als der Thomaskantor neue Kantaten für die Weihnachtszeit braucht, plündert er seinen Hercules. Gleich sechs Stücke daraus wandern ins Weihnachtsoratorium. Die „Wollust“ wird dabei um eine kleine Terz tiefergelegt und zur Anbeterin des Kindleins in der Krippe: „Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh, / Wache nach diesem vor aller Gedeihen! / Labe die Brust, / Empfinde die Lust, / Wo wir unser Herz erfreuen!“
Wie im neuen Kontext aus einer erotischen Fantasie ein Stück für die Kirche wird, ist das markanteste Beispiel für eine Praxis, die zu Bachs Zeiten Komponisten-Alltag war und später „Parodie“ genannt wurde (das altgriechische „parodia“ bedeutet „Gegenlied“). Man recycelte ganz selbstverständlich eigene Werke ebenso wie die von Kollegen – ohne Plagiatsprozesse und Amtsenthebungen befürchten zu müssen. Zum einen unter Lieferdruck, zum anderen, weil viele Stücke das Potenzial hatten, im neuen Rahmen stärkere Wirkung und ein größeres Publikum zu erreichen. Versmaß und Silbenzahl mussten passen – und natürlich der Affekt.
Die Markus-Passion ist in mehrfacher Hinsicht ein Extremfall des Parodierens. Ihre Musik existiert nur als Schatten jener Stücke, aus denen Bach sie zusammengefügt haben könnte. Nur die von ihm dafür vertonten Texte sind erhalten. Von der „Paßions=Music nach dem Evangelisten Marco am Char=Freytage 1731“ wissen wir überhaupt erst, weil der 1700 geborene Oberpostsekretär und Dichter Christian Friedrich Henrici alias Picander seine eigenen Verse samt Evangelienbericht und Choraltexten in einer Sammlung seiner Werke drucken ließ. Vom Aufführungsmaterial, von der Partitur fehlt indessen jede Spur. Mag sein, dass sie nach Johann Sebastian Bachs Tod an seinen ältesten Sohn Wilhelm Friedemann ging, der des öfteren Grund hatte, kostbare Autographe „in Geld zu versetzen“.
Aber schon 1873 fiel es Ludwig Rust – dem Herausgeber der ersten Bach-Gesamtausgabe – auf, dass der erste und letzte Chor und drei Arien der verschollenen Passion ihren Worten nach zu Stücken aus Bachs Trauerode passten, einer Kantate zum Tod der sächsischen Kurfürstin im Jahr 1727. Der Komponist hat dieses Werk möglicherweise so gründlich ausgeschlachtet wie später seinen Hercules für das Weihnachtsoratorium. Rusts Kollegen im 20. Jahrhundert suchten weiter. Spannend, wie etwa Friedrich Smend für den krass dissonanten Start einer Kantate von 1714 in der Passionsarie „Falsche Welt“ einen Text fand, der noch besser passt als der ursprüngliche. Christoph Wolff vermutete in seiner Bach-Monographie (2000) sogar, Textdichter Picander habe sein Markus-Libretto von vornherein auf solche Modelle zugeschnitten.
Inzwischen gilt es „als ausgemacht“, so der Musikhistoriker Sven Hiemke, dass Bach „größtenteils früher entstandene Sätze für den Passionstext eingerichtet hat“. Für die sechzehn Choräle wurde man in einer Sammlung fündig, die Carl Philipp Emanuel Bach ab 1784 publiziert hatte – bekannte, aber auch unbekannte Choralsätze seines Vaters, jeweils ohne Text. Doch so belastbar viele der Funde auch sind – die Erforschung der Markus-Passion bleibt ein Indizienprozess auf Basis von Beweisanzeichen. Der „Täter“ Bach hat immerhin einen Fingerabdruck hinterlassen. In einen weiteren, revidierten Textdruck des Werks, der 2009 in Sankt Petersburg auftauchte, trug er selbst den Ort „Thomae“ und das Jahr der Wiederaufführung „1744“ mit brauner Tinte ein.
Wenn alle Texte der Arien, Chöre und Choräle mit schon vorliegenden, passenden Kompositionen versehen werden, bleiben immer noch die Worte für 32 Rezitative und zwölf Turba-Chöre (sozusagen Treibsätze der „action“) stumm. Das hinderte Musiker und Wissenschaftler allerdings nicht daran, zwischen 1964 und heute mindestens 25 Fassungen zu konzipieren. Mal wurden Textpassagen nur gelesen, mal Rezitative aus der Matthäus-Passion übernommen, mal (wie von Ton Koopman) in Bachs Stil nachkomponiert, mal in gegenwärtige Klangsprache gesetzt wie von Volker Bräutigam. Mitunter gab es sogar „Rekonstruktionen“ mit ganz neuen Texten, etwa von Walter Jens oder Christian Lehnert, der sich mit dem Leipziger Komponisten Steffen Schleiermacher für Nach Markus. Passion (2016) zusammentat.
All die Ermittlungen, Rekonstruktionsversuche und Aufführungen entwickelten schon früh eine Eigendynamik, neben der kaum je die Frage gestellt wird, warum in aller Welt man sich solche Mühe mit einem Werk gibt, von dem keine einzige authentische Note zu haben ist. Brauchen wir noch eine Passion von Bach neben den zwei Fassungen der Matthäus-Passion und den dreien der Johannes-Passion? Wer hätte es je als unerträglichen Verlust empfunden, dass auch zwei Drittel von Bachs Kirchenkantaten fehlen, wenn schon die erhaltenen rund 180 Kantaten nur von wenigen Experten überblickt werden? Könnte man sich nicht auch, nur so als Vorschlag, um die 1418 Kantaten kümmern, die Bachs überaus spannender Zeitgenosse Christoph Graupner schrieb?
Man tut Graupner und anderen starken Köpfen seiner Zeit nicht Unrecht, wenn man feststellt, dass kein Komponist des 18. Jahrhunderts solche Veränderungen im Konzertleben, Komponieren, Forschen, Edieren bis heute bewirkte, wie Bach, durch den bereits Mozart auf neue Bahnen geriet. Was die Wiederentdeckung seines Œuvres in Bewegung brachte, ist nicht zu ermessen. Dem stehen umgekehrt proportional die vielen Fragen zum Leben Bachs und seiner Persönlichkeit, also seine „Unerreichbarkeit“ gegenüber – von Bachs großem Kollegen Claudio Monteverdi etwa, hundert Jahre früher, sind weitaus mehr Briefe erhalten. Bach scheint für uns spätestens als Thomaskantor in seinem Werk zu verschwinden, während er doch unablässig probte, spielte, unterrichtete und es in seiner Wohnung, so der Sohn Carl Philipp Emanuel Bach, „wie in einem Taubenschlag“ zuging.
Neben der Allgegenwart seiner Musik scheint sich Bach als reale Gestalt zu entziehen. Es gibt in seinem Œuvre eine Werkgestalt, die diese „Abwesenheit“ gleichsam spiegelt – und das ist die Markus-Passion. Diese gewaltige Leerstelle, durch die erhaltenen Texte in ihren Umrissen beschrieben, ist zugleich ein Portal, durch das man in Bachs Werkstatt eintreten und mit ihm zusammen arbeiten kann. Zur ersten Einspielung seiner Rekonstruktion der Markus-Passion schrieb Ton Koopman 1999, er habe sich „vorgestellt, ein Schüler Bachs zu sein, dem der Meister (…) folgenden Auftrag gibt: ,Hier ist ein Textbuch, vertone es und verwende dazu so viel wie möglich von den Werken, die ich bis heute (1731) geschrieben habe. Was du nicht finden kannst, das komponiere selbst.‘“
Sven Hiemke ergänzt mit feiner Ironie: „Und vermeide dabei alle Parodievorlagen, die bis zu deiner Fassung verwendet worden sind.“ Das nämlich tut Ton Koopmann. Er folgt keiner der Zuschreibungen, die seit der Fassung von Dietrich Hellmann (1962) als „gesichert“ galten und zur Basis der meisten weiteren Versuche wurden. Durchweg einig sind sich dabei auch Koopmans Kollegen keineswegs. Eine Komposition kann verschiedenen Texten dienen und umgekehrt verschiedene Tonsätze einem Text.
Mit der Auswahl der geeigneten Stücke ist es längst nicht getan. Schauen wir uns noch mal die Arie der Wollust auf ihrem Weg zur Krippe in Betlehem an: Sie wird nicht nur von B-Dur nach G-Dur verlegt, vom Sopran zum Alt. Zu den Streichern im Orchester kommen auch gleich noch fünf Holzbläser. Dazu die Architektur des Ganzen, der dramaturgische Zusammenhang, die Proportionen, die umgebenden Tonarten. Es ist ein komplexer kreativer Prozess, kein „Copy and Paste“, dessentwegen die Arie im Weihnachtsoratorium unser Herz berührt – zusammen mit der unmittelbaren Sinnlichkeit, die sie von ihrem Ursprung mitgebracht hat. In der h-Moll-Messe, dem großen Recycling-Wunder, wird mitunter sogar die Harmonik der übernommenen Stücke verändert.
Da sieht man schon, dass Bachs posthumen „Schülern“ in seiner Werkstatt der Schweiß auf die Stirn treten kann. Selbst wenn man sicher wüsste, welche Vorlagen er für seine Markus-Passion verwendete, wäre jede Rekonstruktion immer noch nicht mehr als eine Annäherung, letztlich die Fiktion einer Rekonstruktion. Aber man sollte es nicht übertreiben mit der „Authentizität“ – sonst dürften die Passionen nicht mal außerhalb des Gottesdienstes gespielt werden! Jede Zeit hat ihren Weg zu Bach. Und er ist es ja weitgehend, dem man in unserem Programm begegnet. Man erlebt seine Musik dabei mit anderen Ohren als sonst, neugierig in jedem Sinne. Wir entdecken Stücke, die sonst nicht oft zu hören sind, und erleben Vertrautes anders – etwa das „Agnus dei“ aus der h-Moll-Messe. Bach entnahm es dem Himmelfahrtsoratorium von 1738, und Ton Koopman benutzt in „seiner“ Markus-Passion dieselbe Quelle für einen der beiden neuen Arientexte von 1744: „Will ich doch gar gerne schweigen…“
Am weitesten greift er zurück für den „Creutzige“-Chor der Markus-Passion. Etwa 1707 entstand wohl in Mühlhausen Bachs geniales Frühwerk Christ lag in Todes Banden, eine Choralkantate für den Ostersonntag, mit einem synkopischen, fugierten „Halleluja“, dessen Schlussrepetitionen etwas leer rotieren. Im neuen, dramatischen Zusammenhang der Passion kann man diese Repetitionen wie einen Vorklang des brutalen Nagelns hören – das ist schon kongenial! Wem das noch nicht genug ist, der genieße den Blick auf den Planeten der unerreichbaren Werke, der sich hier öffnet, auf all die verschwundenen, verschollenen, die vernichteten wie auch die fiktiven Stücke, Bilder, Bücher … oder halte es mit Ton Koopman, der seine Rekonstruktion schon im Jahr 2000 so resümierte: „Es ist einfach ein Abend mit guter Musik.“
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erscheint geringfügig kürzer im Programmheft für das Konzert in der Philharmonie Köln am 18.4.2025. Illustration: Claude Monet, Sonnenuntergang bei Etretat, 1883 (Wikimedia Commons, wo es fälschlich “Sonnenaufgang” heißt).