Zurück in die Zukunft

Wie kommen Komponisten mit älterer Musik auf neue Wege, wieviel Tradition steckt in der Zukunft? Acht Werkstattbesuche durch vier Jahrhunderte

Steve Reich erzählte vor ein paar Jahren, wie es war, als er in Manhattan ein Wagnerzitat in seine Musik einbaute, in seine Video Opera Three Tales. Sie beginnt mit einem Stück über die Hindenburg, den großen Zeppelin des “Dritten Reichs”. Zu dokumentarischen Filmaufnahmen vom Bau des Flugkörpers hört man da einen vertrauten Rhythmus in Reichs Musik – das Ambossgehämmer aus der Schmiede in Richard Wagners Rheingold. „Als ich anfing, daran zu arbeiten, war mir, als hörte ich ein Lachen…“, meinte Reich, „Sie wissen, wen ich meine!“ Er habe Wagner gebeten, Platz zu nehmen. „Have a seat!“ Mit dem Zitat stellte er eine Verbindung zwischen dem Vorzeige-Luftschiff und dem Wagnerismus der Nationalsozialisten her, subtil und genial.

Dass Steve Reich, der gern eine Baseballmütze als Kippa trägt, ausgerechnet Richard Wagner einen Platz anbietet, während er ihn zitiert, führt uns mitten ins Thema: Wie gehen Komponisten mit älterer Musik um, von konkreten Zitaten bis zu tradierten Formen? Welche Wege führen durch den gigantischen Fundus der Musikgeschichte „zurück in die Zukunft“, in unsere Gegenwart – und umgekehrt? Mit Musik aus früherer Zeit befassen sich Komponisten, seit es ihr Metier überhaupt gibt. Grundsätzlich gibt es sowieso keine neue Kunst, in der nicht auch ältere Kunst wäre. Aber es sind am ehesten die Musiker, Komponisten wie Interpreten, die das im Blick haben. Geigenbau, Geigenspiel, Umgang mit Stimmen, mit Formen – das Handwerk verbindet Epochen.

Der Blick in die Vergangenheit, der Rückgriff auf Älteres bekommt bei Musikern schnell etwas Nachbarschaftliches, Kollegiales, selbst gegenüber den nicht wenigen Größen, mit denen man eher nicht Urlaub machen würde. Reichs „Have a seat!“ zu Wagner sagt eine Menge. Schon wer überhaupt für Instrumente und Stimmen schreibt, wie immer noch die meisten, sitzt in der Werkstatt neben Claudio Monteverdi. Und wer heute ein Klavierkonzert schreibt wie Dieter Ammann, 1962 in Aarau in der Schweiz geboren, schließt an ein Repertoire aus gut 300 Jahren an, Bachs Cembalokonzerte mitgerechnet.

Warum einer bei Youtube nach Toccaten sucht

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Der Titel The Piano Concerto stellt ironische Distanz zur Größe des Repertoires her, aber „ich habe schon ein wenig kokettiert mit den Gedanken, dass ich in diesem Genre einen Beitrag abliefern kann, der ein Repertoirestück werden kann“, sagt Ammann im Zoomgespräch. Tatsächlich ist das für Andreas Haefliger entstandene, 2019 uraufgeführte Werk auf dem besten Weg dazu. Mit dem bestimmten Artikel – „das“ Klavierkonzert – unterstreicht Dieter Amman auch, dass er jeweils nur einmal für eine bestimmte solistische Besetzung schreibt. Mit dem Titelzusatz Gran Toccata geht es schon eher in die historische Werkstatt, nicht zu den frühesten, vorbarocken Exempeln dieser offenen Form, sondern zu Klaviertoccaten um 1900. „Ich habe monatelang auf Youtube alles gehört, was ich reinkriegen konnte – Wahnsinn, was es da gibt! – und zehn A3-Seiten mit möglichen Texturen vollgeschrieben. Wie würde diese und jene Figur in meiner Klangsprache klingen?“ Und dann ist ihm auf einer Fahrt nach Luzern die Mappe mit all diesen Skizzen im Zug geklaut worden. „Ich war so am Boden, dass ich dachte, jetzt beginne ich gar nicht mehr. Aber ich glaube, vieles ist durch das Spielen und Skizzieren doch irgendwo hängengeblieben.“

Das passt eigentlich gut zu Dieter Ammanns Umgang mit vorhandener Musik. „Es sind nicht Zitate, womit ich arbeite, mehr Allusionen. Wenn ich eine Bewegung ankurbele, die mich an Ligeti erinnert, lasse ich das absolut zu. Bartók und Strawinsky waren für mich im Rhythmischen sehr wichtig, vom Harmonischen her habe ich mir in den letzten 15 Jahren die Spektralharmonik erarbeitet. Wenn mich etwas innerlich anregt, ist es eine Hörverwandschaft. Sozusagen etwas, das mich an mich erinnert!“ Er lacht. Seine Musik klingt nie verkopft, sie springt einen an. „Ich will ja nicht Strukturen zu hören geben, es soll lebendige Musik sein! Ich möchte die Leute nicht langweilen.“ In dieser Haltung und Offenheit ist Dieter Ammann vom frühen Musikmachen mit Vater und Bruder geprägt, vom Improvisieren mit Vorhandenem. „Das konnte mit Mozarts Sonata facile beginnen und driftete dann vielleicht in ein Volkslied… Alles, was eine ähnliche Klangsprache hatte, wurde miteinander verbunden, aus dem Stegreif.“

Rekordhalter unter den Influencern: J.S. Bach

Wie Ammann sind viele Musiker schon als Kinder mit Musik aufgewachsen, spielend in jedem Sinne. Da gehören die „toten“ Komponisten zur Familie und nicht in die Musikgeschichte. Nirgends ist das so ergreifend festgehalten wie im letzten Streichquartett von Felix Mendelssohn Bartholdy, geschrieben 1847 drei Monate nach dem Tod der geliebten Schwester Fanny. Es beginnt in rasender Trauer, aber irgendwann beruhigt es sich. Etwas seltsam Vertrautes schimmert durch Modulationen, bis man aus f-Moll nach D-Dur geraten ist und es kurz erkennen kann: das Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier I in eben dieser Tonart. Ein Zitat aus den Klavierkindertagen der hochbegabten Geschwister!

Es ist einer der bestversteckten Bezüge auf Bach, von denen es bei Komponisten von Mozart bis heute nur so wimmelt. Es gibt kaum eine und einen, der Johann Sebastian Bach nicht bewundert (fast erleichternd, dass es durchaus einen gibt, nämlich Hector Berlioz!). Im Lexikon Musik über Musik (Bärenreiter 2004) hat Klaus Schneider die Stücke zusammengetragen, in denen Komponisten ausdrücklich Bezug nahmen auf Themen, Werke, Stile ihrer Kollegen, auf die Kollegen selbst. Bach ist dabei der unanfechtbare Rekordhalter, und da sind Subtilitäten wie die aus Mendelssohns Quartett noch gar nicht drin. Von 311 Seiten zu „Musik über Komponisten“ gelten 30 Seiten Bach, 17 Mozart, Beethoven 9 – und allein für Bearbeitungen der d-Moll-Chaconne BWV 1006 könnte man ein eigenes Kapitel aufmachen.

Was Mozart aus vier Takten von W. F. Bach macht

Aber es gibt ja nicht nur den einen Bach. „Ich mach mir eben eine Collection von den Bachischen fugen“, schrieb Wolfgang Amadeus Mozart am 10. April 1782 in Wien seinem Vater, „so wohl sebastian als Emanuel und friedemann Bach.“ Der mit ihm befreundete Hofbibliothekar Gottfried van Swieten hatte aus Berlin viele Manuskripte und Abschriften mitgebracht, die Mozart begeisterten. Von Wilhelm Friedemann Bach, 1710 geboren, sah er sich auch eine kleine Sinfonia durch, zwei Sätze, Adagio und Fuge, für Streicher, Basso continuo und zwei Flöten, d-Moll. Kennt kein Mensch, grob gesagt, aber vier Takte daraus sind weltberühmt. Nämlich die, die Mozart aus dem Adagio übernahm, als er sich im Oktober 1791 an den Auftrag für ein Requiem setzte.

Nachdem bei Friedemann zwei Flöten melancholisch in d-Moll duettiert haben, wechseln sie nach F-Dur, reizvolle Sekundreibungen bildend, darunter setzt sich der Bass in Bewegung. Und exakt so, in Tonart, Taktart, Vorhalten und Notenwerten lässt Mozart im Requiem sein „Recordare Jesu pie“ beginnen. Mozart hat in diesen paar Takten, deren Spannung F.W. Bach zeitgemäß mit einem galanten Schlenker auflöst, das Potential entdeckt, die Zukunft. Die Flöten werden durch moderne Bassetthörner ersetzt. Dann ändert er ein Intervall in der Bläserlinie so, dass mehr Spannung entsteht. Und der Bassrhythmus wird nicht wiederholt, sondern verwandelt. Da sind wir dann schon in einer anderen Welt. Aber wie Mozart dorthin kommt, dieser Schritt ins Neue ist selten derart konkret zu erleben.

Höllenflammen in Bruckners „Siebter“

Natürlich ist auch Mozarts Requiem seinerseits kreativ rezipiert worden. Wenn auch nicht so, dass man aufs erste Hören „Aha!“ rufen könnte. Am Beginn des Scherzos von Anton Bruckners Siebter Sinfonie kann man aber hellhörig werden. Mozarts „Confutatis, maledictis“ beginnt mit einen wütend wiederholten Streichermotiv in a-Moll, in derselben Tonart wie Bruckners Scherzo, mit demselben rhythmischen Kopf – zwei schnelle kurze Noten, eine lange, dieselben Töne a, h, c, rauf und runter, bei Bruckner nur verkürzt. Er bewunderte Mozarts Requiem und musste nicht, wie wohl die meisten von uns, nachlesen, dass es im „Confutatis“ um die Flammen der Hölle geht.

Bruckner brach Ende 1881 die Arbeit am Kopfsatz der Siebten ab, um dieses Scherzo zu schreiben, das überhaupt nicht lustig ist. Warum? Am 8. Dezember war neben dem Haus, in dem Bruckner wohnte, das Ringtheater niedergebrannt, wohl mehr als tausend Menschen starben. Der Komponist schrieb: „Das unaussprechliche Elend der Vielen geht bis ins innerste Mark!“ Die Vermutung liegt nahe, dass er sich mit dem Flammenmotiv an Mozarts rettende Seite begab.

Von „Don Giovanni“ verführt: Manfred Trojahn

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Mozart als Anreger führt uns wieder zu einem Komponisten unserer Tage. Manfred Trojahns Trame lunari für Viola, Klavier und Kammerorchester erleben beim kommenden Musikfest in der Elbphilharmonie ihre Uraufführung, in Gesellschaft Mozarts, dem Trojahn sozusagen seinen Beruf verdankt. 1949 geboren, wuchs er in Braunschweig fern der Klassik auf. „Als ich zehn war, gab´s einen Moment, als ich mit meiner Oma im Gartenhaus war. Da lief im Radio Don Giovanni. Am nächsten Tag habe ich meiner Oma gesagt, was dieser Mozart macht, das will ich auch machen. Damit begann die Katastrophe“, erzählt der 75-Jährige. Es war dem Jungen so ernst mit dem Komponieren, dass er kaum noch etwas für die Schule tat, gleichsam aus Protest gegen seine Hilflosigkeit. „Kein Mensch konnte mir sagen, was eine Partitur ist. Dann fand ich in der Bibliothek diese Dinger mit den vielen Zeilen. Aha, so geht das also, da muss man sowas untereinander schreiben…“

Für ein Klavier fehlten den Eltern Geld und Platz, über das Akkordeon kam Trojahn weiter, und es ist wirklich atemberaubend, wie er unter schwierigsten Bedingungen seinen Weg machte. Selbst als international gespielter Opernkomponist sieht er sich bis heute vom Don Giovanni herausgefordert, davon, „dass ich das nicht machen kann, was Mozart macht. Der baut mit einem Rezitativ szenisch alles hin, dann führt die Arie in eine völlig andere Welt, und doch genau in die Welt der Figuren. Das Handelnde und das Reflektive sind deutlich getrennt – und deutlich zusammengehörig. Man muss heute eine andere Verbindung finden, als es so nebeneinanderzustellen wie Mozart. Aber wie kriegt man das hin? Das beschäftigt mich brennend.“ Wer weiß, vielleicht bringt ihn die Arbeit am aktuellen Werk einer Antwort näher? Manfred Trojahn ist noch mittendrin, als wir telefonieren. Zu seinen Solisten, Viola und Klavier, kommen siebzehn Streicher und ein Bläserquintett. Ränke des Mondes, so die Übersetzung des von Giuseppe Ungaretti entlehnten Titels, „wird eine große Leichtigkeit kriegen, und gleichzeitig versuche ich höchstmögliche Expressivität.“

Denkmäler für Freunde: Pierre Boulez und György Kurtág

Expressivität wurde in Trojahns jungen Jahren von der tonangebenden Avantgarde noch als Regression geächtet. Umso interessanter, dass deren einflussreichster Kopf, Pierre Boulez, mit knapp 50 Jahren die eigene Progressivität unterläuft und eine Trauermusik schreibt, die wie ein neues Stonehenge in der Musiklandschaft steht, so archaisch wie zugänglich, mit metrischen Passagen, Repetitionen, Imitationen, auratischen Tamtamschlägen. Schon in den Bläserrufen des Anfangs lässt sich ein an Verzweiflung grenzendes Klagen vernehmen, dessen Anlass der vollständige Titel verkündet: Rituel in memoriam Bruno Maderna. Eine „Litanei für ein imaginäres Zeremoniell“ nennt Pierre Boulez im Vorwort zur Partitur seine Musik für den Freund und Kollegen Bruno Maderna, der 1973 mit erst 53 Jahren starb.

Mit ritualhaften Tamtams kommt auch ein Orchesterwerk daher, das seinerseits Pierre Boulez gewidmet ist und ebenfalls wie ein Memorial klingt, obwohl György Kurtág es dem um ein Jahr älteren Kollegen zum 90. Geburtstag schrieb. Seine Petite musique solenelle en hommage à Pierre Boulez 90 mutet wie das Bruderwerk des Rituel an. Wieder würdigt ein großer Kollege den anderen, und wieder scheint sich dabei ein Stilwandel zu ereignen. So romantisch wie hier hat György Kurtág zuvor nie geklungen. Sein erstes Werk für großes Orchester, Stele von 1994, ist bei weitem nicht so monumental wie diese halb so lange, sechsminütige Petite musique solenelle von 2015, in deren Titel auch Rossinis Petite messe solenelle anklingt, eine Sakralmusik also. Es mag Boulez eigentümlich berührt haben, so eine Art Nachruf zu Lebzeiten zu hören.

Alte Formen, neue Bahnen: Alban Bergs „Wozzeck“

Barocke Tanzsätze von Prélude bis Gigue, eine Passacaglia, eine Sinfonie in fünf Sätzen, Fugen mit zwei und drei Themen – so etwas soll in einer Oper stecken, die zu den bahnbrechendsten des 20. Jahrhunderts zählt? Ja, und noch viel mehr „Altes“, querbeet durch die Genres. Walzer, Polka, Wiegenlied, ein Rosenkavalier-Zitat, Anspielungen auf Beethovens Pastorale, eine Szene, die exakt „in der Besetzung von Arnold Schönbergs Kammersymphonie“ instrumentiert ist, wie Alban Berg in der Partitur anmerkt. Wer seine Oper Wozzeck nicht kennt, könnte nach solchen Hinweisen meinen, ihre Musik sei ein reichlich gelehrtes Sammelsurium.

Es ist aber ein atemberaubendes Werk in unverwechselbarer Musiksprache, dessen Konstruktion man nicht verstehen muss, um gepackt zu sein vom Drama des Soldaten Wozzeck, der zum Mörder und Selbstmörder wird. Was Alban Berg aus Georg Büchners Woyzeck von 1837 machte, wurde auch möglich durch das Formbewusstsein, das er als Schüler Arnold Schönbergs entwickelt hatte. Er griff für den drastischen, realistischen Stoff zurück auf unterschiedliche Formen, die er für Vielfalt, Strukturierung und Klarheit nutzte.

Da gibt es in einer Kneipe einen besoffenen Handwerker, der eine Predigt improvisiert, gesprochen über Musik. Dieses Melodram ist zugleich das wiederholte erste Trio einer versteckten Sinfonie aus fünf Sätzen, die den ganzen zweiten Akt zusammenhält. Wo es drunter und drüber geht, gelingt den Ohren, was Augen nie könnten: Wir sehen alles zugleich gestochen scharf, den Suff, den Tanz, die Eifersucht. Auch die Konstruktion, die Arbeit mit Formen, macht das Drama so zwingend. Wozzeck, am 14. Dezember 1925 in Berlin uraufgeführt, wurde sofort zum Erfolg. 1929 traute der Komponist seiner Oper schon eine Bühnenhaltbarkeit von 50 Jahren zu. Inzwischen wissen wir, wie zukunftshaltig sie tatsächlich ist. Und wie zeitlos beklemmend eine Passacaglia sein kann, die mit einer Zwölftonreihe einen armen Kerl in die Enge treibt…

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Magazin der Elbphilharmonie, April 2025, Thema “Zukunft”, dem Internationalen Musikfest entsprechend. Bei diesem sind viele der im Text vorkommenden Werke zu hören: Trojahns Trame Lunari am 6. Mai, Ammanns The Piano Concerto am 10. Mai, Mozarts Requiem am 19. Mai, Bergs Wozzeck am 23. und 25. Mai, Kurtágs Petite musique solenelle am 24. Mai, Boulez’ Rituel am 1. Juni und Bachs d-Moll-Chaconne am 3. Juni. Fotos: Dieter Ammann (Screenshot Zoomgespräch), Manfred Trojahn (Boosey & Hawkes).