Klänge für den Weltraum

Die Geigerin Isabelle Faust zieht bei Bach nicht vom Leder, sondern beschwört seine Gedankenkraft

Sogar Bach zögert diesmal, als er Neuland betritt. Kein strahlender Einstieg, keine markanten Rhythmen, nur ein Mollakkord aus vier Tönen, von denen der oberste liegen bleibt und sich irgendwann in eine Abwärtsbewegung löst. Die führt dann aber gleich ins Labyrinth. So beginnt eines der bahnbrechendsten Werke der Musikgeschichte, die Folge der Sei Solo à Violino senza Basso accompagnato, wie der Komponist 1720 aufs Vorsatzblatt schreibt, die sechs Sonaten und Partiten für Sologeige. Ungezählte Geiger haben allein schon über diesem Anfang gegrübelt. Wie lange soll es denn liegen bleiben, dieses g? Was soll derweil mit ihm geschehen? Und was danach?

Auch Isabelle Faust zögert. Vielleicht hat noch nie jemand so schön gezögert auf diesem Ton, so nachdenklich und unbelastet zugleich. Gerade als man sich über die Länge zu wundern beginnt, verrät ein kleines Aufblühen, dass es weitergeht, und im Weitergehen schwingt dann schon unendliche Melodie mit. Kein verklebtes Legato. Es geht nicht nur um die Linie, auch ein Gelände wird sichtbar, zum einen Gedanken kommen andere, und was ist das für ein seltsamer kleiner Schmerz im fünften Takt, vor dem Atemholen, ehe sich von oben zwei kleine Bögen senken? Der Sog, mit dem diese Einspielung beginnt, trügt nicht. Auch wer jede Note kennt, bleibt hier auf jeden Ton gespannt wie selten.

Warum hat sich die deutsche Geigerin das legendäre, hundertfach eingespielte Sixpack vorgenommen? Die 40-Jährige behauptet bescheiden, Freunde hätten sie da »hineingeredet«. »Es ist ein Repertoire, für das man sich nie bereit fühlt. Ich fand, ich hätte noch zehn Jahre warten können.« Die Werke selbst mussten bis 1843 warten, um gedruckt zu werden, erst nach und nach wurden sie entdeckt und begriffen. Brahms’ Freund Joseph Joachim bannte 1903 das g-Moll-Adagio auf die Walze, nachzuhören auf YouTube wie so vieles aus dem Pantheon der Gipfelgeiger von Menuhin (der 1930 die erste Gesamtaufnahme lieferte) über Milstein (der gegen die Monumentalisierung der Stücke anging) bis zu den Größen von heute, die sich Faust durchaus angehört hat.

Allerdings sei sie mit keiner neueren Referenzaufnahme »richtig glücklich« gewesen, sagt sie fast verlegen, auf dem Sessel in ihrem bahnhofshallenhohen Wohnzimmer in Berlin-Charlottenburg sitzend. Sehr helle Augen unter den kurzen Haaren, auf die Journalisten gern so bedeutsam hinweisen, als sähen alle anderen Geigerinnen wie Anne-Sophie Mutter aus. Isabelle Faust ist vorsichtig mit Worten, wenn es um ihre Arbeit geht. Als sie im Studio stand, hatte sie den Eindruck, Bach versuche »durch mich durchzukommen«. 2009 begann sie mit der zweiten Hälfte des Zyklus, der berühmteren. Die Aufnahme wurde einhellig gelobt. Aber es scheint, als hätten Faust und der junge Köthener erst jetzt richtig zusammengefunden, in g-Moll, h-Moll und a-Moll.

Faust spielt auf einer eher hell als groß klingenden Stradivari mit dem schönen Namen »Dornröschen«, mit Barockbogen, aber ohne Darmsaiten. Dass sie mit den Techniken und Grammatiken der historischen Aufführungspraxis vertraut ist, fällt gar nicht als Spezialität auf, so selbstverständlich geht sie davon aus. Als sie vor zehn Jahren erstmals einen Barockbogen ausprobierte, gebaut nicht für großen Ton, sondern rasch ansprechende Artikulation, hatte sie das Gefühl, »jetzt kann ich mal so sein, wie ich sein möchte«. Vibrato ist ein sparsam eingesetztes Gestaltungsmittel, Verzierungen werden improvisiert, Phrasen verdeutlicht – das alles aber mit einer Geschmeidigkeit, mit der eine neue Ebene erreicht wird zwischen »Correctness« und Freiheit.

Während Thomas Zehetmair im Adagio der g-Moll-Sonate die Exzentrik sucht und Christian Tetzlaff die Erzählung, bewegt sich Isabelle Faust auf dem schmalen Grat zwischen Andeutung und Eindeutigkeit. Das schmeichelt dem mitdenkenden Hörer. Ihr nanofeiner Umgang mit dem Bogen kann aus einem Ton Abschluss und Übergang zugleich machen und kommt überhaupt Bachs Ambivalenz entgegen – der Konstrukteur ist hier auch ein Träumer. Seine Fuge tanzt dann fast unbekümmert leichtfüßig herein, das Siciliano ist von zerbrechlichster Traurigkeit. Erstaunlich, dass bei aller Präzision und hellwachen Differenzierung immer eine fließende Leichtigkeit bleibt, selbst im expressiv glühenden, verdichteten Grave der a-Moll-Sonate.

Vielleicht spiegelt sich darin auch etwas vom Werdegang der Geigerin, der geradezu langweilig frei von Krisen ist und ohne spektakuläre Wunderkindereien. 1972 in Schwaben geboren, lernt die Fünfjährige das Geigen gemeinsam mit ihrem Vater, einem Philologen, »aber so ganz naiv waren die Anfänge nicht. Meine Eltern haben das sehr behutsam und aufmerksam begleitet und schon gehofft, dass das nicht so ’ne Eintagsfliege wird.« Für die Elfjährige und ihren älteren Bruder, der von Geige auf Bratsche umstieg, wurden Streichquartettpartner beschafft, man spielte sich – auch auf Wettbewerben erfolgreich – durchs Repertoire, bis die Fünfzehnjährige dann als Solistin auffällig wurde.

Auch wenn ihrem Sieg bei einem kleineren Wettbewerb sogar ein Auftritt mit Yehudi Menuhin am Dirigentenpult folgte – ein Steilstart in die Welt der Geigengirlies wurde nicht daraus. »Vielleicht liegt es daran, dass das eigentlich Geigerische mich nicht so interessiert. Es hätte locker auch ein anderes Instrument sein können.« Freilich fand sie sich auf der Geige so gut zurecht, »dass ich mich relativ früh auf anderes konzentrieren konnte als auf die Technik«. Ihrem Lehrer Christoph Poppen in Detmold war das alles ein bisschen »zu natürlich und instinktiv«. Er bat die Jungstudentin, Mozart einmal komplett ohne Vibrato auszuprobieren, und vermittelte ihr: »Es wäre gut, auch den Kopf einzuschalten.«

Wer den eigenen Kopf etwas entnebeln will, sollte hören, wie Isabelle Faust das Double der Corrente in Bachs h-Moll-Partita spielt, ein auskomponiertes Ornament. Die rasenden Sechzehntel, schwerelos aus den Saiten geholt, hier und da dezent gegliedert, schlagen um in einen eisig klaren Denkraum, eine über sich hinausdrängende Abstraktion, absolut modern. Es ist, als sähe man Bach mit unentzifferbarem Lächeln auf einem Plateau, für dessen Erstbesteiger sich der frühe Pierre Boulez gehalten haben mag. Und die Bourrée? Meist werden ihre Akkorde so geknetet, dass das Stück nicht recht vom Fleck kommt. Faust reißt sie so kurz an, dass es zuerst fast ein bisschen zickig, dann aber geradezu ironisch klingt.

Unteutonisch, könnte man sagen bei einer, die neun Jahre in Paris gewohnt hat. »Ich wollte endlich einmal außerhalb von Deutschland leben!« Sie zog 1996 hin, als beim französischen Label Harmonia Mundi gerade ihre erste CD erschienen war, mit Musik von Béla Bartók. »Die Franzosen bleiben gern unter sich, der deutsche Musikmarkt ist da offener. Es hat drei Jahre gedauert, bis ich akzeptiert war. Da hat es wohl nicht geschadet, dass mich wegen meines Vornamens viele für eine Französin hielten.« Diese Isabelle nahm man dann sogar als Interpretin des großen Franzosen Gabriel Fauré ernst, von dem sie neben der gängigen frühen auch die abgründige späte Violinsonate einspielte – eine der besten Aufnahmen dieses Stücks, dessen Glücksmomente bei Faust immer auch etwas Geistiges haben.

Auch für André Jolivet hat sie sich eingesetzt, den 1974 gestorbenen Meister spirituell leuchtender Farben und Linien, der freilich der Nachkriegsavantgarde als rückständig galt. Seit ihrer Aufnahme seines Violinkonzerts von 1972 hat Isabelle Faust es nie wieder gespielt, »sehr schade! Er ist extrem schwer an den Mann zu bringen. Er war in Frankreich verpönt, auch durch den Einfluss der Clique um Pierre Boulez. Heute würde Boulez keinem mehr den Garaus machen, er ist ein extrem sympathischer Mensch. Aber er hatte eine Macht, die in Deutschland schwer denkbar ist. In Frankreich geht alles von Paris aus. Es gibt die oberen Köpfe, und der Rest des Landes muss kuschen.«

In Paris lernte sie ihren Mann kennen, und als der eine Stelle in Berlin annahm, zog sie mit ihm und dem gemeinsamen Sohn gen Osten. »Ich wollte gar nicht zurück nach Deutschland, merkte aber, dass Berlin gar nicht so viel mit dem Rest von Deutschland zu tun hat…« Besonders häufig ist sie allerdings nicht zu Hause bei 120 Konzerten im Jahr – »die absolute Grenze«. Ihre Professur an der Universität der Künste hat sie aus Zeitnot längst aufgegeben, denn zu den Konzerten kommen die Aufnahmen für Harmonia Mundi. Das bislang größte Projekt war die Einspielung aller zehn Beethoven-Violinsonaten mit Alexander Melnikow. Er ist einer der wenigen Pianisten, die sich auf dem modernen Flügel der sprechenden Präzision eines Hammerklaviers nähern können.

Die beiden versuchten, Beethoven vom 18. Jahrhundert her zu entdecken, mit überraschendem Effekt. Skeptisch gegenüber der Subjektivität selbst da, wo sie den Bogen knirschen lässt, entrückt uns Faust den Klassiker, man sieht ihn wie durch ein Fernrohr, das zugleich Mikroskop ist: weit entfernt, aber gestochen scharf. Umso aufregender, wenn er etwa in der Kreutzersonate auf einmal neben einem steht und die Beobachter ganz in seine Welt reißt. Ganz anders nähert er sich in Fausts Aufnahme des Violinkonzerts, die dieses Jahr herauskam. Mit Claudio Abbado und seinem Orchestra Mozart, einem Projektensemble, wird vielschichtigste Kammermusik daraus, so persönlich, sensibel, nachdenklich, als komponiere der alte Ludwig hier sein Tagebuch.

Dieser Lesart vergleichbar erfrischend ist nur der erst kürzlich erschienene Livemitschnitt eines Konzerts, in dem Thomas Zehetmair, das Ensemble Modern und der Dirigent Ernest Bour 1987 mit rasanten Tempi der Tradition entflohen – übrigens wie Isabelle Faust auch jener, als Kadenz die von Fritz Kreisler spielen zu müssen. Faust und Zehetmair haben sich für das virtuose Showpiece am Ende des ersten Satzes an Beethovens eigenen Entwurf gehalten, den er für eine Klavierfassung schuf – mit dem weit ins 20. Jahrhundert ragenden Einsatz einer dialogisierenden Pauke. Dennoch sind bei Transkription und Interpretation völlig verschiedene Ergebnisse entstanden. Zehetmair spielt wie von Dämonen getrieben, Faust legt Beethovens Experiment mit Klarheit offen.

Wie rasch sich ihre Perspektive auf einen Komponisten, auf ein Werk wandeln kann, das beobachtete die Geigerin selbst nach ihrer ersten Session mit Bach in Berlin vor drei Jahren. »Als ich das nach ein, zwei Monaten abhörte, hatte es sich in meinem Kopf schon wieder verändert. Es ist schlecht abschätzbar, wie man sich weiterentwickelt.« Allerdings dürfte diese Entwicklung kein bisschen geschadet haben. Auch wenn bei ihrer ersten Bach-Aufnahme alle Mittel und Ansätze da sind zu jener konsistenten Vielfalt der Dimensionen, die bei der zweiten CD so überzeugt, wirkt Faust mitunter noch befangen, buchstabiert noch manches. Oder ist es der Hörer, dem die »Kracher« in d-Moll, C-Dur, E-Dur allzu vertraut sind, um auf Anhieb die Nuancen zu erleben, die ihn auf neue Gedanken und Ideen bringen?

Dann könnte einen nicht gerade ihre d-Moll-Chaconne so faszinieren, dieser von Bach auf gut vier Manuskriptseiten zusammengequetschte Weltraumflug (zwölf Minuten, eine Ewigkeit) für zwei Stück Holz mit Saiten drauf und Haaren dran, gefürchtet, beraunt, bewundert, abertausendmal gespielt. Man spürt sofort, dass auch in der Geborgenheit des Studios ein anderer Wind weht, wenn das dran ist. Fast ein bisschen Angst, Atemlosigkeit, zugleich Mut klingen am Anfang mit, fern der Haltung der Großgeiger, die jetzt mal so richtig vom Leder ziehen. Hier bewährt sich besonders, dass sie die Geige als Instrument sieht, als Mittel, nicht als zweites Ich – wobei der Barockbogen seine ganz spezielle Klangökonomie erzwingt.

Sie scheint selbst zu staunen über das, was Bach mit diesem kleinen Gerät in ihren Händen anstellt, während sie zugleich die Polyphonie, die harmonischen Ausweitungen wissend realisiert, und so wird aus der Chaconne ein Abenteuer, ein Projekt mit ungewissem Ausgang. Man spürt, wie der Geist an der Materie reißt, wie Musik das Leben ändern kann. Dass auch die Musik sich ändert, merkt Isabelle Faust, wenn sie alle sechs Solowerke im Konzert spielt – wofür es erstaunlich viel Publikum gibt, gemessen an der Herausforderung für die Hörer. »Jedes Mal denke ich auf der Bühne, wie gehen wir die Sache an? Ich weiß nie, was daraus wird. Die Reise führt jedes Mal an einen andern Ort.«

Dieser Text erschien am 29.11.2012 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt. Eine Besprechung von Fausts Aufnahme des Violinkonzerts von Johannes Brahms findet sich hier, um das Violinkonzert von Robert Schumann geht es hier.