Bienlein baut Bayreuth um

Den Buchtitel „Richard Wagners Stellung in der Entwickelung der Deutschen Kultur“ werde ich so bald nicht vergessen. Man findet so entlegenes Zeug ja schnell im Netz, bestellt es bequem und ohne langes Besinnen. Nur zur Lektüre musste ich aus dem Haus. Das Bändchen lag für mich im Lesesaal der Berliner Staatsbibliothek bereit. Ein schöner Anlass, mal wieder Schuhe zu kaufen. Ich setzte mich in den ICE, fuhr nach Berlin und in die Bibliothek. Das Bändchen fehlte. „In Bearbeitung“, las die Frau am Infostand vom Bildschirm ab.

Sie wunderte sich. Das betreffende Magazin sei gleich nebenan, das Buch müsste längst da sein. Ich sagte, „genau, ich bin extra dafür aus Hannover gekommen.“ Sie begann zu telefonieren. „Ich habe hier einen Herrn, der extra aus Köln gekommen ist“, erklärte sie dem Kollegen im Magazin. Erhöhte Dringlichkeit. Weitere Telefonate. Ich war nicht ungeduldig. Irgendwann, dachte ich, muss man auch mal bezahlen für all die superschnellen Infos im Netz. Ich hörte zu. „Aha… verstehe… frühestens wann?… ja… danke.“

Das Buch hatte sich nie nebenan befunden, sondern in der Musikbibliothek Unter den Linden. Die war wegen Bauarbeiten geschlossen. Ein Eingabefehler, das tue ihr sehr leid. Es gebe aber noch den „Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur“, der enthalte den Text auch, den könnten sie bis morgen beschaffen. „Da bin ich leider schon weg“, sagte ich und dachte, egal, vielleicht taugt das Buch eh nichts. Der Dame war es nicht egal. Sie hatte schon 35 Minuten geforscht, jetzt stand die Ehre der Hauptstadt auf dem Spiel.

Sie drang vor in den Katalog der Humboldt-Universität – und wurde fündig! Oder? „Geschlossenes Magazin, was heißt denn das? So kann ich Sie da nicht hinschicken.“ „Das Buch wird jedenfalls immer interessanter“, tröstete ich sie und dachte, ich bin doch nicht wahnsinnig und werde jetzt noch Mitglied einer Unibibliothek, nur um festzustellen, dass zur Kaiserzeit vaterländischer Schwachsinn über Wagner geschrieben wurde! Ich brauche einen Kaffee! Und neue Schuhe. Aber unmöglich konnte ich ihr jetzt sagen: „Vergessen Sie´s“.

Während sie weiterrecherchierte, dachte ich mir irres Zeug zum Thema aus. Raritäten, die ich wirklich gerne läse, etwa das verschollene Heft „Tim und Struppi in Bayreuth“! 50er Jahre, die Castafiore debütiert als Senta, Kapitän Haddock starrt glasig auf das Schild „Hier gilt´s der Kunst“, Erzschuft Rastapopoulos schäkert mit Schreckschraube Winifred, Professor Bienlein baut Wielands Weltenscheibe zur Zentrifuge um, was für ein Stoff! Ha! Meine Dissertation „Richard Wagners Stellung in der Entwicklung der Popkultur“ würde mich auf einen fächerübergreifenden Lehrstuhl katapultieren!

„Tut mir wirklich leid“, hörte ich die nette Infodame sagen. Was? Ach so. „Nicht so schlimm. Ich versuch´s mal in Hannover“, sagte ich, stand auf und ging träumerisch an der Schlange vorbei, die hinter mir entstanden war.

Der Artikel erschien am 9.2.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt.