Alle Weltwinkel erforscht? Abenteuer nur noch für Extremisten, die kopfüber in der Steilwand des Roirama Tepui hängen überm dampfenden Tropendschungel? Es geht auch billiger. Ich hatte Frido und Paul eingepackt wie Polarforscher. Unnötig, dachte ich, als wir vors Haus traten. Vom Dach tropfte das Schneewasser, die Temperatur war fast frühlingshaft, der Schneemann im Garten konnte seinen Kinderbesen kaum noch halten. Und den Schlitten musste ich immer wieder über den Asphalt ziehen, um aus dem Dorf zu kommen.
Dann begann die weiße Wildnis. Zwischen den Äckern taut es nicht so schnell. Der Weg war bald nur noch ein Trampelpfad zwischen weiten Schneeflächen. Frido hatte beschlossen, für diesen Tag ein Rentier zu sein, allerdings eines, das auf dem Schlitten sitzt. Fürs Erste ging das, weil Paul gern schieben wollte. Er tapste unverdrossen hinter seinem großen Bruder her, die Hände um die Lehne gekrallt. Dann fiel er hin und wollte lieber selbst gezogen werden. Beide passen aber nicht auf diesen Schlitten. Streit der Polarforscher bzw. Rentiere.
Frido leuchtete ein, dass der Kleinere, erst recht nach seinem schubkräftigen Einsatz, das Vorrecht hatte. Er schaltete in den aktiven Rentiermodus und zog Paul so schnell, dass der bald zum ersten Mal in den Schnee fiel und nun weder sitzen noch schieben wollte. Ich nahm ihn auf den Arm. „Du sollst mich ziehen!“, befahl Frido. Das ging bis zur Bahnunterführung. „Ich sollte wieder trainieren“, dachte ich, als ich Paul herunterließ. Es folgte eine glatt ausgetrenene Strecke, in der der Ältere zog und der Jüngere schob.
Ich stapfte hinterdrein und stellte mir vor, wie sie, zu herkulischer Größe und Kraft gewachsen, dereinst ihren greisen Vater durch den Winter des Lebens bugsieren würden. Dann wurde es unwegsam. Zwei Drittel aller Expeditionsteilnehmer streikten und hatten knallrote Nasen, und ich dachte an Scotts Südpolexpedition 1911. Notieren bis zuletzt! Ein Zug rauschte vorbei. Falls uns jemand sah, dachte er bestimmt sowas wie „Aha, Familienausflug im letzten Schnee“. Für uns sahen die weißen Flächen jetzt endlos aus.
Ich trug wieder Paul, und Frido zog den Schlitten und jammerte. „Ich brauche deine Hilfe, Rentier!“ sagte ich. Er setzte sich verzweifelt ins Kalte. „Ich will was trinken!“ „Nachher. Willst du heißen Kakao?“ „Ja. Rentierkakao“, sagte er und setzte sich tapfer wieder in Bewegung. An der S-Bahn-Haltestelle machten wir eine Pause, letztes Lager vor dem Gipfel, dann ging es bergan. Nach Hause, aber was für eine Herausforderung, der Weg an der Parkmauer hoch! Uns konnte sich der scheidende Winter noch einmal in aller Härte zeigen.
Wir haben das heroisch hingekriegt, ohne Kompaß, Proviant und Training. Ich stelle es mir jetzt außerordentlich bequem vor, kopfüber in der Steilwand des Roirama Tepui zu hängen. Alleine, versteht sich.
Der Text erschien am 2.2.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt.