Metabolische Zarathustrik

Da stehen sie nun wieder, die 32 Bände. Sie haben jetzt den siebten Umzug hinter sich, es war der kürzeste. Vom alten Arbeitszimmer ins neue auf derselben Etage. Sie brauchen viel Platz, eineinhalb Meter, und dabei benutze ich sie fast nie, die „Encyclopaedia Britannica“. Vor 20 Jahren gab es sie im Angebot, und von „Internet“ sprachen derweil nur ein paar Bastler an amerikanischen Universitäten. Ich dachte mir, so umfassend kriegst du das Weltwissen nicht noch mal ins Haus! Immerhin war die Ausgabe so aktuell, dass sie unter „Germany“ schon die „reunification“ umfasste.

Und zwar in Kürze wie in Länge, denn die Edition von 1992 besteht noch aus „Micropaedia“ und „Macropaedia“, und letztere liefert in siebzehn Bänden Ausführliches zu großen Themen. Auf jedem Buchrücken stehen das erste und letzte Thema des Bandes untereinander. Die Stichwortpaare reichen in der Macropaedia von „Accounting Architecture“ bis „United Zoroastrism“. Wie oft ich das las! Und wie selten ich die Bände herausnahm! Vielleicht bildete ich mir ein, durch die hyperreale Magie der Wortpaare gerate das Wissen osmotisch durch die Buchrücken ins Hirn. Das ist, wie ich weiß, nicht geschehen.

Ich bin aber sicher, dass es den Horizont erweitert, wenn man 20 Jahre lang eine abgründige Kombination wie „Light Metabolism“ täglich in Goldprägung liest, vorausgesetzt, man hat keine Ahnung, was „Metabolism“ eigentlich heißt. Im Fall von „United Zoroastrism“ schadet es nicht. Band 29 beginnt mit „United Kingdom“ und widmet sich am Ende einer präislamischen Religion im Iran, eben dem „Zarathustrismus“. Oder gar der Zarathustrik? Jedenfalls: „Vereinigt“. Toll! Und warum nicht mal nachdenken über einen präkolumbianischen Heiligen, wie ihn Band 26 mit „Pre-Columbian Saint“ verheißt?

„Saint“ ist freilich nur der erste Hälfte des 1991 frisch zurückbenannten Sankt Petersburg. Mehr Transzendenz verspricht „Metaphysics Norway“, hart wird es mit „Chicago Death“. Und „Decorative Edison“ ahnt schon das Ende der Glühbirne. Sind es nicht alles wunderbare Titel ungeschriebener Gedichte? Zeitloser jedenfalls als alle Aufsätze in diesen Bänden, die schon lange im Schatten der online-updates stehen. Im vergangenen Jahr gab der Präsident der „Britannica“ bekannt, dass die Ausgabe von 2010 die letzte gedruckte bleiben werde – 242 Jahre nach der ersten, die in Schottland erschien.

Jeden der Bände hatte ich öfter beim Bücherkistenpacken in der Hand als zum Lesen. Ich brauche sie nun mal als Schutzwall gegen den eisigen Wind, der durch meine Bildungslücken pfeift. Und gegen die heiße Luft des informationellen Irrsinns: Das Datenaufkommen im Internet entspricht täglich der mehr als 2500-fachen Datenmenge aller jemals geschriebenen Bücher. Allerdings ist das meiste davon auch 2500 Mal so bescheuert. Und dagegen hilft letztlich nur metabolische Zarathustrik im dekorativen Licht Edisons.

Der Text erschien am 26.1.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt