Warum der Gutmensch schnüren muss

Jeden Morgen binde ich mir zwei Mal die Stiefel zu und schnüre sie wieder auf. Das erste Mal, wenn ich die Jungs zum Kindergarten bringe. Dort lege ich die Stiefel ab, um keinen Dreck in den Kinderkorridor zu schleppen, dann wird das Leder wieder angelegt. Eine ziemliche Fummelei, denn jedesmal verrutschen die Senkel so, dass ich die Enden wieder auf gleiche Länge bringen muss. Ich könnte es einfacher haben und den Stiefeln die blauen Plastiktüten überstreifen, die in einem Körbchen bereitliegen. Aber es gibt schon so viel Plastikmüll!

Und ich will es mit der Umwelt mal richtig machen. Auch wenn ich keine Zweifel habe, dass die blauen Tüten ordentlich entsorgt werden, gibt es mir zu denken, dass in der EU jährlich 60 Millionen Tonnen Plastik hergestellt werden, dass ein Drittel der Sandkörner an britischen Stränden kleingewaschenes Plastik sind und im Pazifik sechs Mal so viel Plastik wie Plankton schwimmt. Und wir produzieren zu Hause schon zwei gelbe Säcke voll pro Woche.

Also wenigstens keine Schuhüberzieher. Ob das hilft? Naja, wenn ich mich jeden Morgen der Tüten bediente und nachmittags beim Abholen nochmal, wären es täglich vier, pro Woche zwanzig, im Jahr tausend, bei dreißig Vätern und Müttern dreißigtausend. Also muss der Gutmensch schnüren, schnüren, schnüren, dann fährt er zum Supermarkt und kommt mit einer Menge Verpackungsmaterial nach Hause und hat schon wieder ein schlechtes Gewissen. Die Deutschen sind ja weltberühmt für ihre Mülltrennung und ihr schlechtes Gewissen, aber irgendwer muss doch anfangen…

Dachte meine Schwester auch. Sie ist viel umweltbewusster als ich. Sie engagiert sich mit Zeit und Geld für den Erhalt der Tropenwälder. In fünf Jahren verschwanden 27 Millionen Hektar, eine größere Fläche als die der britischen Inseln, vielleicht wären es ohne meine Schwester noch mehr gewesen. Eines Morgens erwachte sie von einem Geräusch, das auch die Waldbewohner Brasiliens kennen. Motorsägen. Sie blickte aus dem Fenster in den Garten hinterm Haus, wo gerade sämtliche Bäume gefällt wurden, die bis dahin eine Lärmschutzwand verborgen hatten. Was soll man da machen?

Weitermachen. Ich muss ja auch damit rechnen, dass, während ich an meinen Stiefeln nestele oder ein Unternehmen die blauen Tüten recycelt, die im Kindergarten anfallen, von einem Frachter im Pazifik so viel Plastikmüll ins Wasser gekippt wird, das man daraus Fußbodenbeläge für alle deutschen Kindergärten machen könnte. Und das Altöl! Die Chemikalien! Die 20000 Schrottteile im Orbit! Nein, jetzt wird erst recht geschnürt. Täglich 10 Minuten für das gute Gewissen macht 50 Minuten pro Woche, macht (da ich nicht jeden Tag dran bin) knapp 17 Stunden pro Jahr. Fast eine ehrenamtliche Tätigkeit.

Gummistiefel wären natürlich auch eine Lösung. Geht schneller. Aber das ist mir dann einfach zu effizient. Und ein bisschen Stil darf schon bleiben.

Der Text erschien am 16.3.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt