Jaguar, Leguan, Nerz, Mandrill…

Mein dickstes Buch ist eine Übersetzung des Rätselwerkes „Finnegans Wake“. Siebzehn Jahre hat einer daran gesessen, so lange wie Joyce am Original. Der Band wiegt sieben Kilo. Das zweitdickste Buch wiegt fünf Kilo und hat sogar noch mehr Seiten. Sie sind leer, fast leer. Vorn drauf steht in Goldprägung „Museum für Völkerkunde – Accessions-Katalog“. Ich entdeckte es im späten 20. Jahrhundert auf einem Flohmarkt am Leipziger Zentralstadion. Ein Prachtband, hergestellt in der „Geschäftsbücher-Fabrik von J.C.König & Ebhardt Hannover“, für das Leipziger Völkerkundemuseum.

Schweres Papier, Blattgröße 25 mal 39 Zentimeter, liniert, jede Doppelseite mit lindroten Linien aufgeteilt in acht Rubriken von „Laufende Nummer“ bis „Bemerkungen“. Das ist doch mal ein Notizbuch, dachte ich damals. „Was soll es kosten?“ „Hundert Mark.“ „Hundert Mark? Aber es steht ja gar nichts drin. Sind fünfzig okay?“ Komischerweise ließ sich der Mann auf den Deal ein. Er hätte ja auch sagen können: „Das ist es ja gerade. Jungfräulich! Das kostet!“

Ich schleppte den Band nach Hause und machte feierlich gleich die erste Notiz unter „Gegenstand“, ein schönes Lichtenbergzitat, man will ja nicht starten mit „Milch, Butter, Klopapier“ oder „Fa. Müller anrufen“, ich dachte schon mehr ans Gehobene. Dann starrte ich auf die paar Zeilen und dachte, was habe ich getan? Lichtenberg her oder hin, jetzt ist es es entjungfert. Jetzt muss ich es benutzen. Und Lichtenberg gibt den Level an. Es dauerte Wochen, bis ich mit Kuli hinkrakelte „Der Grieche als Schicksalsgenosse“. Ich weiß nicht mehr, was das sollte, aber von zeitloser Gültigkeit ist es ganz unbedingt.

Dann war Schluss für siebzehn Jahre. In der Zeit habe ich allerlei notiert, mich aber nie wieder an den Prachtband gewagt. Eine solche Menge gebundenen unbeschrifteten Papiers lastet wie ein Gletscher auf der Notierlust. Und die Rubriken verlangen nun mal Einträge wie „Nr. 567, hölzerner Pferdekolossalkopf, Anatolien, Hissarlik (Troja), erworben von Sophie Schliemann, 23. März 1913, 14000 Mark, Brandspuren“. Neulich ein letzter Versuch. Mitten in die Rubrik „Werth“, schrieb ich: „Jaguar, Leguan, Nerz, Mandrill, Hai…“ ließ Platz und ergänzte „Muli, Langust“.

Jetzt fehlten noch Tiere, die so ähnlich klingen wie die Monate Juni sowie September bis Dezember. Die anderen standen so fröstelnd auf der riesigen Doppelseite, dass ich den Band wieder schloß. Vom Vorsatzblatt funkelte mich Firmengründer König an über seinem Rauschebart. „Da sitzt ihr nun mit Eurem Informationsüberschuss “, schien er zu murmeln, „aber mein Buch kriegst du nicht voll!“ „Und das ist gut so!“ sagte ich. „Eine Oase der Nichtinformation! Fünf Kilo Freiheit!“ Ein dickes, repräsentatives Buch, bei dem ich mich, anders als bei „Finnegans Wake“, nicht schämen muss, dass ich es nie aufklappe.

Dann fiel mir vor Erleichterung noch „Thunfisch“ ein. Für Juni.

Der Text erschien am 23.3.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt