Kategorie-Archiv: Kolumne

Zurück in die Zukunft

Pauls Haare sind länger nicht geschnitten worden. Das steht ihm ausgezeichnet. Die blonden Locken, nackenlang, wehen im Fahrtwind, wenn er auf dem Motorrad lässig seine Runden dreht. Ein knapp Dreijähriger? Tatsächlich gibt es Motorradrennen immerhin schon für Kinder ab fünf, auf echten, kleinen Benzinmaschinen. Aber Paul hat natürlich einen anderen Bock bestiegen. Der erwartete ihn gegenüber der Kirche im Dorf, vor der Gaststätte, unfern des Wagens, an dem man Plastikenten angeln konnte, umwölkt vom Duft gebrannter Mandeln, von Pommes, Schmalzkuchen, Backfisch.

Also auf dem Jahrmarkt. Einmal im Jahr, einen Tag lang: ein Dorf im Ausnahmezustand. Und ein kleiner Kerl in der Rolle seines Lebens. Denn so sah Paul aus, als er dort seine Karussellrunden drehte. Wie lange es Karussells wohl geben mag? Das können Sie sonstwo nachschauen. Muss man es immer genau wissen? Zahlen zerlegen manchmal ein Gefühl für Dinge, das detailreicher ist. Das uns all die Eltern sehen lässt, die wohl eher, als der Eiffelturm fertig war, ihre Kinder im Kreis fahren sahen, und das jenseits aller Fortschritte alle Generationen seither selbst selig kreiseln lässt.

Aber für jedes Kind ist es irgendwann total neu. Paul fuhr nicht zum ersten Mal Karussell, er wusste, was das ist, und wollte dorthin, aber es war immer noch aufregend. Für Frido, den Fünfjährigen, war es gerade noch interessant genug; er saß, philosophisch träumend, in einem Feuerwehrauto und sann auf das Höhere, das an diesem Tag wahr werden würde. Paul aber strahlte. Er trug ein lilagelbes Blumenhemd wie aus den Siebzigern, dazu eine schneeweiße Hose, steuerte locker den Bock und blickte so lebenslustig ins Gewimmel, als beginne in diesem Moment seine Karriere als charmantester Playboy der Welt.

Er hatte etwas von „Reich mir die Hand, mein Leben“, während härtere deutsche Schlager der Neuzeit ihn umdröhnten und die altmodischen Hup- und Klingelgeräusche. Das fahrende Gewerbe gehört wie die Kinder, die es verzaubert, zu den stabilsten Gesellschaften der Welt, wie sie berührt es das Zeitlose, durch sie wird all der Tand, das Gerassel der Imitate wahr gemacht. Paul wusste, dass es kein richtiges Motorrad war. Und doch war es in diesen unmessbaren Minuten das einzig wahre Motorrad, mit ihm raste er, ohne sie zu kennen, an der Seite aller coolen Typen, die je auf der Piste waren.

Für Frido war die Fahrt nur die Ouvertüre zum Himmelsflug. Gut festgeschnallt, hob ihn die Kraft der Bungeeseile über das Gewimmel. Immer höher stieg er, sich vom Trampolin abstoßend, er blickte übers Dach der Bäckerei, er sah so glücklich aus, dass ich mit seinen Augen über den Atlantik blicken konnte, von dessen anderer Seite der Bungeeschaukelbesitzer wohl gekommen war, ein Mann mit den bronzenen Zügen der Azteken. Von dort, von der Sonnenpyramide, hatte ich einmal nach Europa geblickt, als Frido noch unterwegs war. Daran musste ich jetzt denken. Wie weit die Welt ist! Um das zu fühlen, muss man manchmal nur auf einen kleinen Dorfrummel gehen.

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Wir vier von der Vorgruppe

Komischerweise habe ich dabei nie Lampenfieber. Ohne Instrument in der Hand, ohne Noten, ohne schützenden Frack. Es gibt auch kein Manuskript zum Vorlesen. Nur eine Taschenpartitur, ein paar gekrakelte Notizen und, das hilft allerdings enorm, drei Mitstreiter. Im wahrsten Sinne. Wir streiten uns vor Publikum. In wechselnder Besetzung, immer über ein oder zwei Stücke Musik, von denen wir verschiedene Aufnahmen mitbringen. Was der eine intensiv findet, mag der anderen gestrig klingen. Was der eine als analytisch genau lobt, kommt dem anderen unterkühlt und kleinteilig vor.

Was dabei herauskommt, worauf sich dieses „Quartett der Kritiker“ mitunter auch mal einigt, das weiß man vorher nicht. Vielleicht reizt das die Leute, vielleicht wollen sie auch mal nachschauen, ob Kritiker einer bedrohten Tierart ähneln, jedenfalls ist es immer rappelvoll. Neulich saßen 300 Leute erwartungsvoll im Halbdunkel des Saales, bereit, sich 90 Minuten lang mit einem der extremsten Streichquartette aller Zeiten zu befassen, Beethovens opus 131, den Klangbeispielen und uns zu lauschen. Und danach noch dem ganzen Opus in echt, gespielt von einem der besten Ensembles.

Wir sind immer nur die Vorgruppe, auch das ist gut gegen Lampenfieber. Anders als beim Schreiben muss man nicht jedes Wort wägen und bringt sich dafür gegenseitig auf Ideen. Es sind immer ziemlich verschiedene Typen. Diesmal hatten drei von uns Headset-Mikrofone, nur nicht der Kollege aus Süddeutschland. Er hat einen so gewaltigen Schädel, dass der Bügel nicht passt. Er bekam ein Mikro in die Hand, neigt aber zum Gestikulieren, weswegen das Mikro, wenn er sprach, immer vor ihm herumwanderte. Machte nichts, seine radiogeschulte Stimme ist so gewaltig wie der ganze Mann.

Die Kollegin aus Frankfurt ist nicht nur Autorin, sondern eine begnadete Moderatorin. Mich stellte sie mit dem Hinweis vor, dass es über Bratscher noch mehr Witze als über Blondinen gibt. Sie selbst spielt Geige, und dann saß da – neben dem süddeutschen Cellisten – unser Organist aus der Schweiz, besser bekannt als Musikredakteur. Er hatte in seine Partitur sieben bunte Lesezeichen geklebt. „Du bist wieder am besten vorbereitet“, sagte die Frankfurterin und hob ihre Partitur: Nur vier Fähnchen! Ich hatte gar keins reingeklebt. Und der Cellist? Der hob die leeren Pranken, er brauchte keine Noten. Gelächter.

So unterschiedlich, wie wir ausgerüstet waren, diskutierten wir auch. Der Schweizer supergründlich. Die Frankfurterin umfassend. Der Süddeutsche überschwänglich. Der Norddeutsche kann sich selbst schlecht beurteilen, wusste aber genau, dass Geiger Adolf Busch am 2. März 1936 in London die schönste aller Girlanden spielte in Takt 8 von Teil 3 in opus 131, Adagio. Er berührt den Himmel damit! Aber das Glissando im Lagenwechsel danach, wandte der Schweizer Kollege ein – da sei man doch froh, jene Zeiten hinter sich zu haben. Ach, die Girlande sei mir zugestanden, fand die Frankfurterin.

Bestimmt haben unsere Zuhörer hinterher im Konzert verschärft auf diese Stelle geachtet. Und vor allem begriffen, dass es eine „richtige Interpretation“ so wenig geben kann wie ein sicheres Abenteuer. Und die Kritiker, die so oft skeptisch zwischen Applaudierenden sitzen, begriffen am Ende, dass auch Applaus wie Musik klingen kann – wenn man ihn mal selbst abkriegt.

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Säckeweise Sommerlicht

Plopp. Und noch ein Plopp. Sie ploppen immer noch, die Äpfel. In so einem Garten hätte Newton die Gravitationsgesetze ein Jahrzehnt eher erkannt. Vier alte Bäume haben wir im Garten, und sie werfen Äpfel ab, als sollten wir einen Saftladen eröffnen. Genug Saft für den Anfang haben wir jedenfalls schon, dessen Erzeugung uns beinahe einen Achsenbruch beschert hätte. Wir hatten gesammelt und gesammelt, die roten und die rotgrünen und die grünen mit der rauhen Schale, am Ende standen neun Kisten und acht Säcke im Stall.

Die füllten das Auto bis zum Rand. Es war gerade noch Platz für mich und die beiden Jungs, die ich vom Kindergarten abholte, um zur Mosterei zu fahren. Vielleicht hat es den Achsenbruch abgewendet, dass ich uns alle von vornherein darauf gefasst machte. Ich sei nicht sicher, erklärte ich ihnen, ob Emma (so heißt das Auto nach einer berühmten Lokomotive) nicht ein bisschen überladen sei. Gut dreihundert Kilo Äpfel waren es bestimmt, plus meine 80 oder so (mit Klamotten) plus Frido und Paul, die ja auch nicht kleiner geworden sind.

Die Gebrauchsanleitung fürs Auto las ich lieber gar nicht erst, stattdessen schlich ich über die Bundesstraße, ließ mich von LKWs überholen, überließ mich der Entschleunigung und fürchtete jeden Huckel. Eindeutig lag Emma so hart auf der Straße wie noch nie, trotz frisch aufgepumpter Reifen. Wir kamen gut an. Frido und Paul ergriffen die kleinste Kiste und schleppten sie zur Halle, in der die Mosterei lärmte. Ein Mann mit grüner Schürze, das Gesicht rot, rund und gesund wie ein Apfel, lachte: „Ist das alles, was ihr habt?“

Ich zeigte ihm den Rest. Er begriff, dass er es mit Großkunden zu tun hatte, holte einen Palettenbugsierer und lud ihn voll. Dann wurden Sack um Sack und Kiste um Kiste in den Schlund der Mühle gekippt. „Jetzt ist Emma erleichtert“, sagte Frido erleichtert, während sich Paul hinter mir vorm Krach der Maschine versteckte. Wir sahen unten den Matsch und noch darunter dem Saft, der heraustropfte. Der wurde erhitzt und dann in Flaschen und Kanister gefüllt. Hinter uns warteten schon andere Apfelernter, aber niemand war ungeduldig.

Die Sonne schien spätsommerlich auf den Vorplatz, man genoß die Zeit der Metamorphose. Dieselben Äpfel, die zuerst nur beim Rasenmähen im Weg gewesen waren, erwiesen sich nun als Schätze. Nichts Neues unter der Sonne, aber man muss es erlebt haben. Ich hatte mich ja schon selbst daran gewöhnt, dass der Saft aus dem Supermarkt kommt und an Äpfel nur erinnert. Das hier war die Essenz. Als wir sie zuhause probierten, wurden wir zu Pomoholikern, süchtig nach diesem Saft, der das Sommerlicht im Leib verbreitet.

Der erste Fünfliterkanister war nach drei Tagen leer. Blieben noch herrliche 120 Liter. Um nicht vollkommen abhängig zu werden, stieg ich abends auf Wein um. Aber der nächste Termin in der Mosterei ist schon gebucht. Plopp!

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