Wir vier von der Vorgruppe

Komischerweise habe ich dabei nie Lampenfieber. Ohne Instrument in der Hand, ohne Noten, ohne schützenden Frack. Es gibt auch kein Manuskript zum Vorlesen. Nur eine Taschenpartitur, ein paar gekrakelte Notizen und, das hilft allerdings enorm, drei Mitstreiter. Im wahrsten Sinne. Wir streiten uns vor Publikum. In wechselnder Besetzung, immer über ein oder zwei Stücke Musik, von denen wir verschiedene Aufnahmen mitbringen. Was der eine intensiv findet, mag der anderen gestrig klingen. Was der eine als analytisch genau lobt, kommt dem anderen unterkühlt und kleinteilig vor.

Was dabei herauskommt, worauf sich dieses „Quartett der Kritiker“ mitunter auch mal einigt, das weiß man vorher nicht. Vielleicht reizt das die Leute, vielleicht wollen sie auch mal nachschauen, ob Kritiker einer bedrohten Tierart ähneln, jedenfalls ist es immer rappelvoll. Neulich saßen 300 Leute erwartungsvoll im Halbdunkel des Saales, bereit, sich 90 Minuten lang mit einem der extremsten Streichquartette aller Zeiten zu befassen, Beethovens opus 131, den Klangbeispielen und uns zu lauschen. Und danach noch dem ganzen Opus in echt, gespielt von einem der besten Ensembles.

Wir sind immer nur die Vorgruppe, auch das ist gut gegen Lampenfieber. Anders als beim Schreiben muss man nicht jedes Wort wägen und bringt sich dafür gegenseitig auf Ideen. Es sind immer ziemlich verschiedene Typen. Diesmal hatten drei von uns Headset-Mikrofone, nur nicht der Kollege aus Süddeutschland. Er hat einen so gewaltigen Schädel, dass der Bügel nicht passt. Er bekam ein Mikro in die Hand, neigt aber zum Gestikulieren, weswegen das Mikro, wenn er sprach, immer vor ihm herumwanderte. Machte nichts, seine radiogeschulte Stimme ist so gewaltig wie der ganze Mann.

Die Kollegin aus Frankfurt ist nicht nur Autorin, sondern eine begnadete Moderatorin. Mich stellte sie mit dem Hinweis vor, dass es über Bratscher noch mehr Witze als über Blondinen gibt. Sie selbst spielt Geige, und dann saß da – neben dem süddeutschen Cellisten – unser Organist aus der Schweiz, besser bekannt als Musikredakteur. Er hatte in seine Partitur sieben bunte Lesezeichen geklebt. „Du bist wieder am besten vorbereitet“, sagte die Frankfurterin und hob ihre Partitur: Nur vier Fähnchen! Ich hatte gar keins reingeklebt. Und der Cellist? Der hob die leeren Pranken, er brauchte keine Noten. Gelächter.

So unterschiedlich, wie wir ausgerüstet waren, diskutierten wir auch. Der Schweizer supergründlich. Die Frankfurterin umfassend. Der Süddeutsche überschwänglich. Der Norddeutsche kann sich selbst schlecht beurteilen, wusste aber genau, dass Geiger Adolf Busch am 2. März 1936 in London die schönste aller Girlanden spielte in Takt 8 von Teil 3 in opus 131, Adagio. Er berührt den Himmel damit! Aber das Glissando im Lagenwechsel danach, wandte der Schweizer Kollege ein – da sei man doch froh, jene Zeiten hinter sich zu haben. Ach, die Girlande sei mir zugestanden, fand die Frankfurterin.

Bestimmt haben unsere Zuhörer hinterher im Konzert verschärft auf diese Stelle geachtet. Und vor allem begriffen, dass es eine „richtige Interpretation“ so wenig geben kann wie ein sicheres Abenteuer. Und die Kritiker, die so oft skeptisch zwischen Applaudierenden sitzen, begriffen am Ende, dass auch Applaus wie Musik klingen kann – wenn man ihn mal selbst abkriegt.

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